Ecce simiae
24 Jahre alt, Student der Mathematik und klassischer Philologie, Fußballfan – und Psychiatriepatient: Das Leben von Sean Christophe wird auf den Kopf gestellt, als ihn ausgeprägte Panikattacken mehr und mehr zu beherrschen beginnen. Nun verbringt er seine Tage, die alle ineinanderzulaufen scheinen, in einer Klinik. Immerhin lernt man dort auch durchaus sympathische Leute kennen: Mikko, der coole Finne, der nicht über den Grund seiner Einweisung spricht; Tom, der Kohle hat und ein wenig eigen ist, dafür aber eine weise und beruhigende Ausstrahlung besitzt; die tiefgründige Bohnenstange Piet; die ernste Semra, die sich selbst Halt gibt, indem sie überall einen kleinen Kommissar Rex mit sich herumträgt; die süße, verletzliche Jessi; Tibault, das Milchgesicht mit Aggressionsproblem; und noch viele weitere interessante Menschen. Könnte man vergessen, dass man sich in einer Psychiatrie befindet, wäre es vielleicht sogar ganz schön – zumindest einfacher als im Leben draußen, mit dem fast alle, die zurzeit hier wohnen, so ihre Schwierigkeiten haben (da sie die Dinge oft tiefer fühlen und unter die Oberfläche blicken).
Doch dann soll sich alles schlagartig ändern: Schon seit geraumer Zeit erhält Sean mysteriöse Anrufe einer anonymen Person, die zumeist nur scheinbar zusammenhangslose französische Worte aufsagt. Als einer dieser Anrufe ihn an ein enigmatisches Graffito mit dem Wortlaut „Revolution morgen 12 Uhr“ erinnert, beginnt er, mehr dahinter zu vermuten. Schließlich findet er gemeinsam mit den anderen heraus: Dahinter verbergen sich Koordinaten! Irgendwer will Sean scheinbar etwas mitteilen. Kurzerhand wird ein kühner Plan gefasst und in die Tat umgesetzt: Sean, Tom, Tibault, Piet, Jessi und Semra klauen einen Wochenvorrat Medikamente, reißen aus und nehmen kurzerhand den Zug zur ersten Koordinate in Berlin. Was gut und gerne nur eine Psychose hätte sein können, entpuppt sich bald als echte Schnitzeljagd, die das ungleiche Grüppchen schon bald nach Paris verschlägt. Kann es da Zufall sein, dass Sean gerade VIP-Tickets zum Public Viewing des Fußball-WM-Finales auf der Fanmeile gewonnen hat? Doch wie sich herausstellt, hat er auch noch eine ganz andere Motivation für die Fahrt nach Paris, und als die Ereignisse sich verdichten, finden er und die anderen sehr viel über sich selbst heraus …
„Vielleicht sind gebrochene Biographien eher die Norm als die Ausnahme“
„Minu Dietlinde Tizabi“, so verrät es der Klappentext, „wurde im Alter von 14 Jahren Deutschlands jüngste Abiturientin. Anschließend studierte sie Medizin in Heidelberg, woraufhin sie mit 22 Deutschlands jüngste Ärztin wurde. Seit ihrer Kindheit schreibt sie auf Deutsch und Englisch.“ Ein waschechtes Wunderkind also. Mit Revolution morgen 12 Uhr legt sie ihren Debütroman vor – und dieser ist nicht minder außergewöhnlich als ihre bisherige Vita.
Selten ist die widersprüchliche und so schwer fassbare Natur seelischer Leiden so gut literarisch vermittelt worden wie in diesem Roman. Vom einen auf den anderen Moment tut sich unter der dünnen, porösen Schicht des täglichen Trotts ein Abgrund existentieller Bedrohung oder Verzweiflung auf, zieht sich ein Riss durch die Welt, beginnt eine Wunde, von der man zuvor nichts ahnte, immer wieder aufzureißen und zu bluten, blähen sich Emotionen überlebensgroß auf. Und doch muss es irgendwie weitergehen.
„Ewig kann man eben nicht verhandeln mit den Gedanken und Gefühlen, die das eigene Leben als Geisel halten“
Ängste, Traumata, Depressionen, Wahnvorstellungen, Zwangsgedanken – Betroffenen wie Nicht-Betroffenen fällt gleichermaßen schwer, wirklich zu verstehen, was da mit einem geschieht. Der Begriff der psychischen Erkrankung birgt dabei Vor- und Nachteile: Zum einen mach er klar, dass es sich um ein ernstzunehmendes Problem handelt, und auch, dass man dafür genau so wenig zur Verantwortung zu ziehen ist wie für eine rein physische Krankheit oder Verletzung; zum anderen aber haftet diesem Feld ein nachhaltiges gesellschaftliches Stigma an, wird Personen, die aus der Reihe fallen, anders ticken oder nicht so funktionieren, wie es von ihnen erwartet wird, kurzerhand ein Stempel aufgedrückt. Otto-Normalverbraucher bringt auch heute noch selten Verständnis dafür auf. Auch davon – neben vielen anderen Dingen – handelt dieses Buch.
Hauptsächlich aber handelt es vom Leben und dem Versuch, darin jeden Tag sein Bestes zu geben. Tizabi überzeichnet nur gelegentlich, schildert zumeist in einer sehr wertfreien, vielschichtigen Sprache die Odyssee ihrer Figuren. Und auch, wenn wir nach und nach hinter die Fassaden dieser Figuren schauen und die Trauer, die Narben, die Angst verstehen lernen, bleibt die Geschichte durchgängig voller Herzenswärme – und vor allem sehr viel Humor. Besonders unterhaltsam sind die Gedankengänge des Protagonisten Sean, der seine komplexen Ansichten in einem Notizbuch festhält, das ihm einst seine Oma geschenkt hat. Darin legt er sich ein ureigenes, individuelles Lexikon an, in welchem er gängige Begriffe völlig neu, intim und persönlich definiert. Auszüge aus diesem Lexikon, die während des Roadtrips entstehen, bilden die Kapitelunterschriften.
Tatsächlich ist der knackige Roman am Ende viel zu schnell vorüber, und die Nebencharaktere hätten deutlich besser konturiert werden können. Dennoch gelingt der Autorin sehr treffsicher eine zutiefst emotionale und hochphilosophische Reise, die darüber hinaus auch noch Spaß macht und einem die Augen öffnet.
Fazit
Revolution morgen 12 Uhr ist ein glücklicherweise gänzlich unsentimentales und sehr versöhnliches Plädoyer für Empathie, das handwerklich wie inhaltlich fast auf ganzer Linie überzeugt und jedem Menschen – ob nun psychisch auf der Höhe oder etwas wacklig – einiges fürs Leben mit auf den Weg geben kann. Klare Leseempfehlung!
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