Einen Freund verloren – einen Freund gewonnen
Den Verlust ihres Freundes nimmt die namenlose Ich-Erzählerin zum Anlass, Rückschau zu halten. Dabei erinnert sie sich an die Zeit des Kennenlernens, den einmaligen Versuch, ein Paar zu werden, und die gemeinsame Leidenschaft: das Schreiben. Aus der missglückten Beziehung ist dennoch eine tiefe Freundschaft entstanden, die alle Liebeseskapaden und drei Ehefrauen des Schriftstellers überdauert hat.
«…[..] und ich glaubte nicht, dass du mein Freund sein könntest. Aber als wir uns schließlich wiedersahen, war es nicht schmerzhaft peinlich, wie ich befürchtet hatte, und etwas anderes – eine gewisse Spannung, eine Verstörtheit, die mir nicht ganz bewusst gewesen war, war verschwunden. Das war natürlich genau das, was du dir erhofft hattest.»
Zurück bleibt der Wunsch des Verstorbenen, dass die Freundin seine Dogge mit Namen Apollo bekommen soll - eine wahnwitzige Idee, denn die Wohnung der Ich-Erzählerin ist klein, und außerdem ist es den Mietern verboten, Tiere zu halten. Ganz abgesehen davon, dass die Schriftstellerin das riesige Tier gar nicht will. Nach einiger Zeit und wider Erwarten fühlt sie sich für Apollo verantwortlich, und ausgerechnet er hilft ihr über den Verlust des Freundes hinweg.
Doppeldeutig und berührend
Sigrid Nunez’ Roman Der Freund besteht aus zwei Handlungssträngen: Im ersten Teil zieht die Ich-Erzählerin Bilanz und kehrt in Gedanken in die Vergangenheit, als sie als Literaturstudentin den nun verstorbenen Freund, einen sehr jungen und attraktiven Dozenten und Casanova, kennenlernte, zurück. Auch die Ich-Erzählerin erliegt seinem Charme, doch bleibt es bei einer einmaligen Eskapade. Was bleibt, ist eine enge Verbundenheit, eine tiefe Freundschaft.
In den Zwiegesprächen mit ihrem verstorbenen Freund hält sie nicht mit ihrer Meinung zu gewissen Ereignissen und Begebenheiten zurück. Die gedankliche Rückschau ist gespickt mit Zitaten, Anekdoten und literarischen Verweisen. Auch Hinweise auf Schriftsteller und deren Beziehung zu Hunden finden Platz. Das ergibt ein eindrückliches Bild des Verstorbenen und ist gleichzeitig eine Art Nachruf auf den Seelenverwandten.
Der zweite Handlungsstrang erzählt vom Leben mit der Dogge und den täglichen Herausforderungen mit diesem großen Hund. Die Schriftstellerin erschwindelt ein Attest, mit welchem sie nun die Dogge in ihrer Wohnung halten darf, und fühlt sich mehr und mehr mit dem trauernden Hund in Fürsorge und in Erinnerung an den Freund verbunden.
« ‘Es ist nicht seine Schuld, dass er so groß ist. Und es mag verrückt klingen, aber ich habe das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird, wenn ich ihn nicht behalte. Wenn er noch einmal umziehen muss, könnte er so viele Probleme entwickeln, dass er eingeschläfert werden muss. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss ihn retten.’ Ehefrau Eins sagt: ‘Über wen sprechen wir hier eigentlich?’ »
Dieser Roman ist mit seiner Doppeldeutigkeit und mit seinen vielen Einschüben von Zitaten und Verweisen auf Schriftsteller, seinen philosophischen Betrachtungen und Einblicken in literarisches Schaffen, eine Art Trauertagebuch - ein feinsinniger und berührender Nachruf auf eine einzigartige Freundschaft.
Fazit
Eine literarische Trauerverarbeitung mit viel Tiefgang und leisem Humor. Die Ich-Erzählerin nimmt den Leser mit auf ihren Weg der Rückblende, des Sinnierens und des Lösens aus der Trauer. Die Lektüre ist auf eine ganz besondere Art und Weise berührend und ein Lesegenuss.
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