Mitgift

- HC, 352 Seiten

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Sandra Dickhaus
901001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2022

Ein großer historischer Familienroman um einen Hof in der niedersächsischen Provinz

Ein Familienroman, in dem der Autor Henning Ahrens seine eigene Vergangenheit aufgearbeitet hat: Zwar lernte er die älteren Generationen nicht mehr kennen, aber sie bilden den Kern der Geschichte. Auch die Tragödie, auf die das Geschehen unweigerlich zusteuert, hat sich so wirklich ereignet. In der durch die eigene Familiengeschichte inspirierte Handlung geht es um das Geschehen auf einem Hof in einem Dorf in Niedersachsen. Hier wohnt seit vielen Generationen die Familie Leeb, deren Ansinnen es ist, ihr Familienerbe zu erhalten – egal, welche gesellschaftlichen oder politischen Umwälzungen geschehen mögen. Leid, Schmerz, der ewige Druck, alles richtig machen zu müssen, und die harte Arbeit werden in dieser Familie verschwiegen. Zweifel oder Schwäche gelten hier nicht, vor allem, seit Wilhelm Leeb, ein Nationalsozialist durch und durch, der neue Hofbesitzer wird. Um diesen zu erhalten, heiratet er keineswegs aus Liebe seine Frau Käthe, sondern aus Machtbesessenheit und unbändiger Geltungssucht. Dafür lässt er seine wirkliche Liebe, Gerda Derking, die noch eine besondere Rolle im weiteren Verlauf des Romans spielen wird, sitzen.

Die Bestatterin des Provinznests spielt eine entscheidende Rolle

Genau mit der „Totenfrau“ Gerda, der Nachbarin Wilhelm Leebs und der Bestatterin des Provinznests, beginnt auch der Roman. Sie öffnet nichtsahnend die Haustür und der alte Leeb steht völlig aufgelöst  vor ihr und bittet sie um Hilfe. Eine Tragödie muss passiert sein! Dies alles geschieht im Jahr 1962 und bildet den Rahmen des gesamten Plots. Die einzelnen Geschehnisse werden nicht chronologisch erzählt, sondern immer wieder in einzelnen Partikeln mit kleinen Einblicken, wie durch eine schmutzige Fensterscheibe in ein fremdes Wohnzimmer, beleuchtet. Szenen reihen sich an Szenen und zeichnen sich durch vielfältige Dialoge aus. Gerda, eine wichtige Figur im Geschehen, ist die Einzige, die die Geschehnisse, auch wenn sie ein vergangener Schicksalsschlag mit der Familie Leeb verbindet, auf dem Hof mit einem möglichen Abstand berichten kann.

Wilhelm Leeb – ein machtbesessener Patriarch und Nationalsozialist

Die Figur des Wilhelm Leeb spiegelt in Facetten eine ganz eigene Generation wider, wenn dieser fiktive Charakter auch vor allem durch seinen Egoismus und ohne jegliche Spuren emotionaler Intelligenz auskommt. Leeb ist kein angenehmer Mensch, er genießt es, als Nationalsozialist über den anderen stehen zu können und seinen Gelüsten nachzugehen. Seine Befugnisse spielt er ohne Skrupel aus. Auch wenn er eigentlich nicht in den Krieg hätte ziehen müssen, weil er einen Hof bewirtschaftet, fühlt er sich verpflichtet. Nachdem er zurückkehrt, sind seine negativen Charakterzüge noch ausgeprägter und er ist tief traumatisiert. Die Jahre in der polnischen Kriegsgefangenschaft haben ihn noch einmal zusätzlich geprägt und einen viel härteren Mann aus ihm gemacht. Das merken auch die anderen Bewohner des Hofes, vor allem Käthe, seine Frau, aber am meisten sein Sohn, der auch Wilhelm heißt. Dieser hat mit seiner Mutter den Hof bewirtschaftet, als sein Vater nicht da war, erhält aber nur Kritik, Strenge und Unbarmherzigkeit. Der sich anbahnende, flackernde und dann ausbrechende Vater-Sohn-Konflikt bildet den Kernkonflikt des Geschehens. Schon von Beginn an ist man sich als LeserIn sicher, dass das Ganze auf eine Tragödie zusteuern muss.

Wie viele Kinder im Zweiten Weltkrieg ist Wilhelm zunächst ohne Vater aufgewachsen und steht dann vor einem völlig Fremden, der nach seiner Heimkehr das Sagen hat. Eine ganze Generation, deren Verhältnis zu ihren traumatisierten Vätern schwierig und schmerzhaft ist, wird hier exemplarisch abgebildet.

Eine dichte Sprache mit fein gezeichneten Charakteren

Ahrens nutzt eine wunderbar dichte Sprache, durch dessen Membran nichts mehr zu passen scheint. Dabei ist sie so grob wie die Lebensweise und die Vergangenheit der Figuren. Fein gezeichnete Charaktere prägen das Geschehen – egal, ob positiv oder negativ. Ohne viel Schnickschnack gelingt es dem Autor eine Familiengeschichte zu erzählen, die ein eigenes Kapitel unserer deutschen Vergangenheit ausmacht. Auch wenn es schon einige solcher Romane gibt, dieser zeichnet sich durch Dialoge aus, die auf den Punkt kommen. Man merkt sofort, dass viel geschehen ist, Unheil in der Luft liegt, Schmerz und Angst herrschen, ein Patriarch seine Macht ausspielt. Und hierzu passt mitnichten eine blumige Sprache.

Fazit

Das Zeugnis einer Familiengeschichte, ein schwelender Vater-Sohn-Konflikt, ein narzisstischer Kriegsheimkehrer, verschwiegene Traumata und das Zusteuern auf eine unvermeidliche Tragödie hat Henning Ahrens in einen Roman gepackt. Angespornt durch seine eigene familiäre Geschichte lässt er die Leserschaft erkennen und vor allem auch selbst fühlen, wie tief die Narben der Vergangenheit sein können und wann sie wieder drohen aufzureißen.

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