Eindrücklich, aber unaufgeregt
In Mainheim in Hessen schlagen die Uhren noch sehr gemächlich, die SPD ist stärkste Kraft und der Arbeitsmarkt im Aufschwung. Die Natur hat hier wenig Platz: Die Luft ist verpestet, das Abwasser gelangt ungeklärt in den Fluss. Minka will das so nicht hinnehmen und beginnt, etwas dagegen zu unternehmen. Als sie als junge Frau von der Vergangenheit eingeholt wird, beginnt sie zu verstehen, was in Mainheim alles schiefgelaufen ist …
„Überhaupt war das alles im Nachhinein eine glückliche Fügung. Es gibt Situationen im Leben, die so unerwartet sind, dass man sie nicht planen kann. Unfälle gehören dazu.“
Minka, Tochter des Bürgermeisters Schönwetter, und ihre beste Freundin Caro, Tochter des Direktors der örtlichen Schokoladenfabrik, wachsen in den 70ern im schönen Mainheim auf. Hier riecht es je nach Wetterlage nach Schokolade oder nach den ätzenden Dämpfen der nahen Arzneimittelfabrik. Überschattet wird ihr sorgloses Leben, als ihr Schulkamerad Guy vom Sprungbrett im Schwimmbad springt und dabei fast stirbt. Wer die Schuld an dem Unfall trägt, soll über Jahre hinweg vertuscht werden und wie ein Schatten über einigen Männern Mainheims liegen.
Währenddessen kommt Claire im hiesigen Kinderheim an. Sie hat all ihre Verwandten im Vietnamkrieg verloren und nun ihr neues Zuhause in Deutschland gefunden. Sie lebt sich schnell ein und lernt akzentfrei Deutsch. Von einer Ärztin bekommt sie außerdem eine wöchentliche Ration an Medikamenten – vordergründig, um ihren ausgemergelten Körper aufzubauen, doch eigentlich um sie als Versuchsperson einzusetzen. Diese Medikamentengabe wird sie über lange Zeit abhängig machen.
Ein Spiegelbild einer ganzen Generation
Mittlerweile gehört Katharina Fuchs zu jenen Autorinnen, deren Bücher blind gelesen werden können, wenn sie erscheinen. Ihre Mehrgenerationen-Romane vermögen völlig in die jeweilige Zeit zu ziehen. Das mag vermutlich auch daran liegen, dass sie auf Geschichten beruhen, die in der Familie der Autorin aufgetreten sind. In Unser kostbares Leben findet sich Katharina Fuchs‘ eigene Kindheit wieder, und das merkt man vor allem darin, dass der Schreibstil sehr persönlich geworden ist. Dadurch baut man schnell eine Bindung zu den Personen auf, die sich nicht nur auf Minka und Caro beschränken, sondern teilweise ganze Familien umfassen. Das erklärt unter anderem die Dicke des Buches.
Ein weiterer Grund: Die Geschichte spielt über mehrere Jahre und spiegelt perfekt die Gesellschaft der 70er wider, als sich langsam ein Umweltbewusstsein entwickelte. Die SPD als stärkste Kraft, die für Wohlstand und florierende Arbeitsmärkte stand, verlor langsam, aber schleichend an Zustimmung, während eine neue Partei, Die Grünen, gegründet wurde. Anfangs noch belächelt und als Hippies heruntergespielt, wurde doch schnell klar, dass die Menschen sich nach einer intakten Natur sehnten. Diese Sehnsucht trifft die Autorin sehr gut.
Was jedoch gefährlich bei Tatsachenromanen ist, ist die zu enge Bindung an die Geschehnisse. Auf den über 600 Seiten passiert zwar viel, aber ein Abschluss mit Guys Unfall, den Umweltsünden in Mainheim und mit so vielem mehr gelingt nicht ganz. Natürlich ist das wahre Leben keine vollendete Geschichte, aber man muss sich bewusst sein, dass man einiges vermissen könnte, wenn man das Buch zur Hand nimmt – vor allem Spannung und einen befriedigenden Ausgang.
Fazit
Man bekommt von Katharina Fuchs immer eine solide Geschichte, die einen nicht mehr loslässt. Diesmal fehlt aber ein rundes Ende für alles, was darin passiert – und das ist eine Menge!
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