Familiengeschichte vor historischem Hintergrund
Es gibt nicht viele Romane mit dem Handlungsort Taiwan, der Republik China. Die Inseln haben in den letzten 150 Jahren mehrmals die Staatszugehörigkeit wechseln müssen, und die Drohung der Volksrepublik China, sie zu annektieren und ihrem eigenen Staatsgebiet anzuschließen, ist heute immer noch erschreckend aktuell. Stephan Thome ist promovierter Philosoph und Sinologe, der mit Pflaumenregen sein fünftes Buch vorlegt, das eine Hommage an seine Wahlheimat ist - und gleichzeitig eine Reminiszenz an die unterschiedlichen Bewohner der Inseln.
Familie Chen ist von der Vergangenheit geprägt
Die kleine Umeko wächst in Kirun, einer Bergbaustadt im Norden Taiwans, auf. Sie fühlt sich als Japanerin, liebt ihren älteren Bruder Keiji, den Star der örtlichen Baseballmannschaft, und ihre Lehrerin Honda. Der 2. Weltkrieg scheint weit weg, doch als die Armee ein Gefangenenlager im Ort einrichtet, ist er auch in Kirun spürbar. Als Japan den Krieg verliert und die chinesischen Nationalisten unter Chiang Kaishek und seinen Kuomintang die Macht in Taiwan erlangen, wird alles Japanische ausgemerzt. Es folgen Jahre mit blutigen Kämpfen, bis 1949 endgültig ein autoritärer Polizeistaat etabliert ist. Erst 1996 finden erstmals freie Präsidentschaftswahlen statt. Heute ist Taiwan eine funktionierende, aber bedrohte Demokratie. Diese Entwicklungen erleben wir an der Seite von Umeko, die sich nach der Sinologisierung Lee Ching-mei nennen muss. Ihre Familie ist gezeichnet durch die politisch unruhigen Jahre. Umeko selbst endet in einer lieblosen Ehe. Ihr jüngster Sohn Harry lebt in der Gegenwart in den USA, kommt aber wegen ihres Geburtstags nach Taiwan. Immer wieder fragt er sich, warum seine Mutter so empathielos und distanziert ist. Er will der Vergangenheit auf den Grund gehen und findet Unterstützung bei seiner Nichte Julie, die wie er Historikerin ist.
Eine nicht ganz einfache Lektüre
Obwohl Thome eingangs eine kurze Übersicht über die politischen Ereignisse auf Taiwan gibt, ist es nicht immer einfach, dem Geschehen zu folgen. Allein schon die japanischen bzw. chinesischen Namen mit all ihren Sonderformen, wie Ruf- oder Höflichkeitsnamen, sind relativ schwer zu memorieren. Dazu kommen die oft lediglich nur angerissenen pauschalen Nennungen, wie „Generalisimus“, die ein Verständnis und auch ein flüssiges Lesen erschweren. Die politischen Ereignisse werden zudem oft nicht auserzählt, sondern nur angerissen oder finden teilweise im Hintergrund statt, sodass tiefergehendes Wissen zu den historischen Gegebenheiten absolut nicht schaden kann. Dem Leser wird zudem viel Flexibilität abverlangt, denn die Sprünge zwischen den beiden Zeitebenen werden nicht angezeigt, die Kapitel sind lediglich nummeriert, ohne eine Ort- oder Zeitangabe als Überschrift. Das macht Pflaumenregen zu einer nicht ganz leicht zu lesenden Lektüre, die konzentrierte Aufmerksamkeit und zudem Interesse an der Geschichte dieses Ortes verlangt. Auch sollte man Baseball nicht unbedingt ablehnend gegenüberstehen, denn dieses Spiel zieht sich durch den ganzen Roman, wird eingehend auf ganzen 25 Seiten thematisiert und als Bindeglied von Vergangenheit und Gegenwart für Familie Chen stilisiert.
Identitätsverlust und Lügen
Mit Umeko erschafft Thome eine Figur, die trotz ihrer zentralen Rolle und ihrem Leben, das die ganze Tragik Taiwans widerspiegelt, erstaunliche Distanz zum Leser wahrt. Nur in seltenen Fällen können wir hinter die Fassade blicken, vor allem in Gesprächen mit Bruder Keijo zeigen sich aber doch Gefühle:
„Es war alles Propaganda was sie uns beigebracht haben, ja? Genau wie heute. Dann weiß ich nicht mehr, was ich überhaupt glauben soll. Wie wählt man zwischen zwei Lügen?“
Doch diese raren Gefühlsausbrüche reichen nicht, um Sympathie beim Leser hervorzurufen, im Gegenteil: Man ist eher auf Distanz bedacht, wenn man die scheinbar empathie-unfähige Umeko erlebt. Erst am Ende des Buches, wenn Julie und Harry mit Umeko (jetzt Ching-mei) ihren Heimatort Kirun (jetzt Keelung) besuchen und sie sich in Erinnerungen verliert, wird der schmerzhafte Identitätsverlust dieser Person auch emotional greifbar. Erst jetzt wird aus der Figur, die nicht nur gezwungen wurde, ihren Namen und somit ein identitätsstiftendes Merkmal zu ändern, um damit gleichsam aus ihrem gewohnten „japanischen“ Leben in ein fremdes „chinesisches“ katapultiert zu werden, zu einer Frau, der ein Gefühlsleben quasi politisch verweigert wurde. Die gleiche Distanz legt der Autor auch seinen anderen Charakteren auf; lediglich Harry und Julie dürfen zumindest in ihren Gedanken Schwächen zeigen, die sie dann auch gleich zugänglicher für den Leser machen. An diesen unterschiedlichen Verhaltensweisen der Generationen schafft es Thome, die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft zu zeigen, die zwar noch asiatischen Werten anhängt, aber sich immer mehr dem westlichen Lebensstil öffnet.
Fazit
Pflaumenregen ist eine nicht ganz einfach zu lesende Familiengeschichte, die uns nach Taiwan entführt. Die historischen Veränderungen des Staates prägen das Leben der Protagonistin und sollten dem Leser zumindest ansatzweise bekannt sein, damit er dem Verlauf folgen kann. Stephan Thome ist ein Roman gelungen, der anhand einer Biografie die ganze Tragik Taiwans zeigt - ein Staat, der auch heute noch durch China in seiner Existenz und Identität bedroht ist.
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