Die dunkle Seite von Micky Maus
Die junge Sophie Simmons, schon seit der Kindheit eine begeisterte Zeichnerin, hat nur einen Traum: Sie möchte Animatorin bei Walt Disney werden! Deshalb kann sie ihr Glück kaum fassen, als sie ein Stipendium für das angesehene Chouinard Art Institute erhält. So verschlägt es sie im Jahr 1932 also von New York nach Hollywood, wo sie ihre ersten Schritte gehen und Kontakte knüpfen kann. Sie lernt zum Beispiel Art Babbitt kennen, einen von Disneys Chefanimatoren. Mit seiner Hilfe bringt sie es sogar zu einer Anstellung in den Disney Studios – wenn auch zunächst nur als Koloristin in der Abteilung Tinte und Farbe. Dennoch fiebert sie nunmehr, wie so viele Mitarbeiter hier auf der Hyperion Avenue, dem kommenden, visionären Mammutprojekt entgegen: der abendfüllende Zeichentrickfilm Schneewittchen und die 7 Zwerge.
Doch die Zeiten sind hart: Die Große Depression steckt Amerika noch in den Knochen, während sich am Horizont schon der nächste Weltkrieg anbahnt. Viele Menschen können sich kaum ihre Existenz finanzieren und leben von Hungerlöhnen. Besonders das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in den Disney Studios, was die Arbeit sowie die Bezahlung angeht, stößt sauer auf. Hinter den Kulissen wird zunehmend Gerede von Gewerkschaften und Streiks laut. Dazu nehmen persönliche Tragödien Sophie immer wieder den Wind aus den Segeln. Obendrein muss sie auch noch versuchen, ihre Gefühle für ihren wankelmütigen Kollegen Jules Beck zu sortieren. Und der ist nicht der einzige, der Interesse an ihr hat. Wird Sophie es schaffen, sich trotz aller Widrigkeiten selbst treu zu bleiben und ihren Traum nicht aus den Augen zu verlieren ..?
„Animation ist wie Schauspielerei mit dem Bleistift“
Bevor sie sich gänzlich der Schriftstellerei verschrieb, war die aus Barcelona stammende Autorin Núria Pradas als Lehrerin tätig. Nach Die Kleidermacherin legt sie nunmehr mit Der Boulevard der Träume einen gänzlich anders gelagerten Roman vor, der 2020 mit dem Premio Ramón Llull prämiert wurde. Gewidmet ist das Buch Pradas Tochter Clàudia, die selbst als Animatorin und Illustratorin arbeitet und in ihrer Mutter die Motivation ins Rollen brachte, ein Buch über die (gerade für Frauen) schwierigen Zeiten in der frühen Ära des Trickfilms zu verfassen. Ihre Hauptfigur Sophie lässt sie deshalb auf dem Weg zu ihrem Ziel die bewegten 30er- und 40er Jahre in New York und Los Angeles erleben.
„Los Angeles war eine Durchgangsstation, eine Stadt, in der ständig neue Menschen auf der Suche nach Arbeit und ihrem Glück eintrafen und andere wider gingen. Oft waren sie mit ihren Träumen gescheitert“
Trotz des interessanten Settings und der vielversprechenden Prämisse bleibt der Roman jedoch leider weit unter seinen Möglichkeiten. Pradas findet durchaus viele schöne Formulierungen, ergeht sich jedoch auch in Wiederholungen, hohlen Phrasen, Melodramatik und Klischees. Die Geschichte steckt voller spannender Ansätze – die Arbeitsbedingungen von Frauen in den Hollywoodstudios des frühen 20. Jahreshunderts; Walt Disneys erbitterter, jähzorniger Widerstand gegen Gewerkschaftsbestrebungen; der Trickfilm und die USA im Wandel der Zeit – doch leider werden diese nur selten konsequent ausgeschöpft. Häufig stehen stattdessen Sophies Emotionswirrwarr und die Schicksalsschläge, die sie privat bewältigen muss, im Vordergrund. Doch auch diese wirken manchmal eher planlos eingeworfen, anstatt wirklich Folgen für den Handlungsverlauf zu haben. Es entsteht ein episodenhafter Eindruck, wobei die Geschichte recht ziellos vor sich hin mäandert und oftmals einer übergeordneten Dramaturgie entbehrt. Dabei kommt einem durchaus die ein oder andere sympathische oder interessante Figur unter, aber lebhaft ausgebaut werden auch von ihnen die wenigsten. So wirkt der Roman ein wenig wie eine buchgewordene Telenovela.
Immerhin merkt man Núria Prada an, dass ihr das Thema wirklich am Herzen lag und sie ihre Hausaufgaben gemacht hat. Die Einblicke, die man in die Abläufe der Trickfilmproduktion und deren Weiterentwicklung erhält, lesen sich nämlich durchaus spannend.
Fazit
Der Boulevard der Träume nutzt das der Geschichte innewohnende Potenzial leider nicht aus. Er bietet eine ganz unterhaltsame Zeitreise in die Welt des Zeichentrick während der frühen bis mittleren Jahre Hollywoods, die als verträumte Winterlektüre herhalten kann, der es jedoch stark an Substanz mangelt – eher literarisches FastFood als gelungenes Popcorn-(Kopf)Kino.
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