Wie in allen Familien, gibt es eigene Regeln und viel Ungesagtes
Joy und Stan Delaney führen eine gute Ehe, mit einigen Höhen und Tiefen, aber sie hat Bestand. Ihre vier erwachsenen Kinder gehen längst eigene Wege. Und obwohl die vier in der eigenen Tennis-Schule, die der Lebensmittelpunkt von Joy und Stan war, zu sehr guten Tennisspielern wurden, so blieb ihnen eine professionelle Tenniskarriere verwehrt. Vielleicht, weil ihre charakterlichen Schwächen sich auch immer im Spiel gezeigt haben, vielleicht, weil ihr an sich geduldiger Vater doch nicht so genau verstand, wie seine Kinder „ticken“, vielleicht aber auch, weil der Druck zu hoch und der eigene Wille nicht groß genug war. Die Tennisschule ist Geschichte, sie wurde verkauft, und nun sehen sich Joy und Stan einem eher rastlosen Ruhestand entgegen. Obwohl Joy es ja peinlichst vermeidet anzusprechen, sie wünscht sich von Herzen Enkelkinder. Doch die vier sind alles andere als sichere Kandidaten für eine Elternschaft.
In diese zähe, etwas ziellose Zeit fällt plötzlich ein Ereignis, das alles verändern soll. Wie es nach Außen aussieht und wie es jedoch tatsächlich ist, das sind bei Liane Moriarty aber immer zwei ganz unterschiedliche Dinge. Tatsache ist jedoch, dass Joy einige Monate später spurlos verschwindet. Alles, was sie ihren Kindern hinterlassen hat, ist eine merkwürdige SMS, dass sie „off grid“ – also vom Netz- sei.
„Es war klar, dass das passieren würde, sagten die Leute, und jetzt war es passiert.“
Obwohl die Geschichte damit beginnt, dass die vier Kinder darüber beratschlagen, ob sie nun endlich bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben sollen, hat Joy von Anfang an durchaus viel zu sagen, sie ist die klare Hauptrolle dieses Romans. In Rückblenden erfahren wir aus ihrer und aus der Perspektive der einzelnen Familienmitglieder, was bis zu dem Verschwinden der Ehefrau und Mutter, Ende 60, gut trainiert und lebensfroh, geschehen ist.
Doch immer wieder kehrt die Handlung auch in die Gegenwart zurück; sehr geschickt lässt Liane Moriarty auch Unbeteiligte die Szene von außen beschreiben, wie zum Beispiel die Kellnerin des Cafés. Damit eröffnet sie ihren Leser/innen einen spannenden Blick von außen, das weckt unversehens die Neugier auf die einzelnen Akteure und ihre persönlichen Geschichten, die sie so mit niemandem teilen würden. Wie auch die Frage, die wie der berühmte Elefant im Raum steht, warum der Vater die Familie immer wieder verlassen hat - ohne ein Wort zu sagen.
Der schmale Grat zwischen Alltag und Katastrophe
Wie kaum eine andere Autorin versteht es Liane Moriarty, Menschen zu lesen, sie lebendig werden zu lassen. Scheinbar ganz beiläufig dividiert sie das allzu Menschliche auseinander, um es in beeindruckender Leichtigkeit immer wieder neu zu arrangieren. Dabei bedient sie sich bei dem vorliegenden Roman einiger dramaturgischer Finessen, die die Spannung bis zum Schluss ganz oben halten. Dazu entwirft sie in der angenehmen australischen Kleinstadtidylle ein wunderbares Tableau an gesellschaftlichen und atmosphärischen Eigenheiten, in das man nur zu gerne abtaucht.
Den Spagat zwischen Komisch und Dramatisch beherrscht sie ohnehin in Perfektion und so führt sie uns ganz unversehens, Stück für Stück, tiefer in das Familiengeflecht; bis man schließlich erkennt, dass sich der leichtfüßige Roman zu einem echten Krimi entwickelt, der sowohl die Hintergründe eines gewissen beflissenen Hausgastes entlarven will, wie auch das Rätsel um Joys Verschwinden. Die Polizei ist misstrauisch, alle Delaneys verhalten sich verdächtig.
„Zum ersten Mal in neunundzwanzig Jahren spürte sie diese Angst: Die Angst, von der jede Frau weiß, dass sie auf sie lauert, die Möglichkeit, die sich in den Untiefen ihrer Gedanken versteckt, selbst wenn sie ihr ganzes Leben lang von Männern zärtlich geliebt und gut beschützt wurde.“
Savannah, eine Fremde, die nachts plötzlich vor der Haustür der Delaneys steht und offensichtlich Hilfe braucht, setzt sich immer tiefer in der Familie fest, besonders in das Herz von Joy. Doch die Motive der jungen Frau, die wie ein Papagei andere Menschen in Perfektion zu imitieren versteht, sind unklar und ihre Hintergründe umso mehr.
Langsam fügt sich ein Bild zusammen, das Bild einer Familie, die einen schwachen Moment hatte – oder auch mehrere – deren Mitglieder, jede/r für sich, mit ihrem Versagen, ihren Schwächen umzugehen lernten. Aber kann eine Reihe ganz alltäglicher Ereignisse wirklich zu einer so unglücklichen Verknüpfung führen, die nur zu einem Schluss führen kann, nämlich, dass Stan seine Frau getötet hat? Liane Moriarty geht sehr nah heran, fast wie mit einem Teleobjektiv. Aber zoomt man aus dem Bild, sieht alles vielleicht ganz anders aus.
Fazit
Die Chemie einer Familie ist immer etwas ganz Einzigartiges. Liane Moriarty lässt uns durch die Augen ihrer Protagonisten sehen und in seinen vielen kleinen Einzelteilen ein Bild entstehen, vor dem wir am Ende staunend stehen. Ein humorvoller, überaus spannender und zugleich rührender Roman, der zeigt, wie schmal der Grat zwischen Familien-Idylle und -Drama sein kann.
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