Literarisch hochwertiges Chaos
1894, in einem von den Vereinigten Staaten losgesagten Staate New York: David, ein junger Mann aus gutem Hause, soll endlich verheiratet werden. Sein Großvater hat bereits eine gute Partie für ihn gefunden: Charles, einen freundlichen, älteren Herrn mit Südstaaten-Wurzeln. Da verliebt sich David in den jungen Musiklehrer Edward. Ist Edward aber wirklich der, für den er sich ausgibt? Und wird David der Pflicht oder seinem Herzen folgen ...?
1994, Washington Square: Inmitten der AIDS-Epidemie gibt Charles gemeinsam mit einigen Freunden ein Abschiedsdinner für ihren langjährigen Freund Peter, der bald vom Krebs dahingerafft werden wird. Mit dabei ist Charles‘ junger Mitarbeiter und Lebensgefährte David, der sich in dieser Runde fehl am Platze fühlt. David trägt seine eigenen Narben mit sich herum – ein an ihn gerichteter Brief erzählt eine Geschichte von seinem Vater, die bis in die alte Kolonie Hawai’i zurückreicht …
2094, „Zone 8“ (vormals New York): Eine Pandemie nach der nächsten hat große Teile der Bevölkerung ausgelöscht. Charlie arbeitet in einem Labor als kleines Rädchen im Getriebe des totalitären Staates. Sie hat nie viele Fragen gestellt – doch eines Tages ist das vorbei. Sie beschließt, ihrem Ehemann nachzustellen und herauszufinden, wohin dieser sich an seinen freien Abenden davonstiehlt. Auf ihrer Suche nach der Wahrheit trifft sie auf David, der ihr ein unerhörtes Angebot macht: ihr zur Flucht nach Neubritannien zu verhelfen …
Ex obscuris lux – „Licht aus der Dunkelheit“
Hanya Yanagihara, Tochter eines Hawaiianers mit japanischen Wurzeln sowie einer gebürtig südkoreanischen Mutter, lebt heute in New York und arbeitete zunächst langjährig als Redakteurin und Journalistin, bevor sie 2013 ihren ersten Roman Das Volk der Bäume veröffentlichte, der an eine wahre Begebenheit angelehnt ist. In Deutschland erschien dieser erst nach ihrem Folgewerk, dem vieldiskutierten und für mehrere Preise nominierten Ein wenig Leben. Ihre Bücher behandeln u.a. Themen wie (post-)kolonialistische Erfahrungen und individuelle Traumata – so auch Zum Paradies, der zeitgleich auf Englisch und in der starken deutschen Übersetzung von Stephan Kleiner erschien.
Hale Kealoha – „Haus der Liebe“
Yanagihara ist eine begnadete Schriftstellerin, die knallharten Realismus mit einer traumwandlerischen Atmosphäre zu verbinden vermag und das Seelenleben ihrer Figuren lyrisch auslotet, ohne sie zu verurteilen. Besonders gut gelingt ihr dies im ersten Abschnitt des Buches, der sich wie ein klassischer amerikanischer Gesellschaftsroman liest – angesiedelt allerdings in einer alternativen Historie, in welcher New York zu den sogenannten Freistaaten gehört, die nach einer Sezession nicht mehr Teil der Vereinigten Staaten von Amerika sind. Freiheitlichen Idealen verschrieben, werden geflohene Sklaven unterstützt und eine Ideologie freier Liebe gelebt: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind an der Tagesordnung. Den Standesdünkel allerdings hebelt dies nicht aus, denn immer noch werden Ehen zweckdienlich arrangiert. Davids Suche nach Liebe in dieser so vertrauten und doch so fremden Welt, geschrieben in einem nostalgischen Stil, ist durchaus faszinierend zu verfolgen.
Ebenso glaubwürdig und ausdrucksstark gelingt die Zeichnung von Hauptfigur David im zweiten Abschnitt des Romans (die Namen wiederholen sich in allen Abschnitten als stilistisches Mittel, ohne dass die Charaktere identisch wären oder direkt etwas miteinander zu tun hätten). Der Brief, den er von seinem Vater erhält, bringt eine schmerzhafte Familiengeschichte zutage, welche u.a. die Unabhängigkeitsbestrebungen Hawai’is beinhaltet.
Charlie, die (aus Gründen, die im Laufe der Handlung aufgedeckt werden) anderen Erwachsenen intellektuell und emotional ein wenig hinterherhinkt, ist eine wortkarge, aber anrührende Protagonistin im dystopischen dritten Abschnitt, in welcher der Staat sich den Ausbruch immer neuer Krankheiten zunutze machte, um demographische Kontrolle auszuüben, was immer wildere Blüten trieb. Das resultierende Schwinden der Bevölkerungszahlen hat letztendlich zu einem Verbot der Homosexualität geführt.
In allen Abschnitten geht es um die Frage, wie sehr wir doch ein Produkt unserer Umstände sind und wie schnell sich diese Umstände ändern können; es geht um die Reflektion eines Amerikas, das behauptet, ein Paradies zu sein, bestimmte Menschen davon aber immer wieder gezielt ausschließt; doch es geht auch um Selbstermächtigung, bewegte Zeiten überdauernde Liebe und Zuneigung sowie bedingungsloses Vertrauen.
„Nur Menschen, die eine berechtigte Hoffnung haben, von der Geschichte unsterblich gemacht zu werden, sind so davon besessen, wie diese Unsterblichkeit aussehen wird. Wir anderen haben genug damit zu tun, es irgendwie durch den Tag zu schaffen“
Leider hat Yanagihara mit diesem ambitionierten Werk das Ziel verfehlt. Besonders Buch II enttäuscht, da es nach der Wiedergabe des (bewusst unrealistisch langen) Briefes die behutsam und stimmungsvoll konstruierte Rahmenhandlung nicht wieder aufgreift.
Buch III besteht wiederum aus zwei eigenständigen Geschichten, denn der Plot um Charlie wechselt sich mit in Form eines Briefromans gehaltenen Sequenzen ab, in denen chronologisch immer schneller voranschreitend ihr Großvater Ereignisse schildert, die zur jetzigen Situation geführt haben.
Das Gleichgewicht all dieser Geschichten ist unausgewogen, der dritte Abschnitt nimmt fast die Hälfte des Buches ein. Die Autorin hätte entweder jeden der Abschnitte tatsächlich zu einem eigenen Buch ausbauen sollen, oder aber straffen, kürzen und so zurechtfeilen, dass ein klarer Kern, ein starkes, thematisches Herzstück hervortreten kann.
Während Das Volk der Bäume ein tiefschwarz-wuchtiger, verwirrend-verstörender, aber gezielter Schlag in die Magengrube war, geht in Zum Paradies die inhaltliche Einheit in der Überfrachtung aus Ideen unter. Da kann leider auch Yanagiharas faszinierende, sogstarke Sprache nicht mehr helfen.
Fazit
Wer Hanya Yanagiharas Vorgängerwerke mochte, wird sicher auch mit Zum Paradies etwas anfangen können, finden sich darin doch viele ihrer favorisierten Motive wieder. Auch ihr Stil ist in höchsten Tönen zu loben. Doch scheinbar will sie diesmal zu viel: Das Buch wirkt überlang, inkonsequent und unausgereift – nicht das Glanzstück der Autorin.
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