Auf der Spur nach den eigenen Wurzeln
Marie will nur eines: Endlich erfahren, warum ihre Mutter sie vor vielen Jahren verließ. Doch ihr Vater weigert sich, ihr Antworten zu geben. Sie beginnt zu recherchieren, doch alles, was sie vorfindet, sind noch mehr Fragen. Als unerwartet eine alte Liebe auftaucht, muss sie auch hier Barrieren überwinden. Und über all dem hängt ein Damoklesschwert, ein Gerücht eines zweiten Krieges. Denn aus Deutschland kommen unheilvolle Nachrichten, die Europa in Chaos stürzen sollen …
„Man sieht nur, was man sehen will, hatte Maries Vater ihr immer wieder erklärt.“
Marie wächst in Krakau, Polen, auf. Es ist das Jahr 1939, die Nationalsozialisten haben sich in Deutschland ein neues Reich aufgebaut, und nun soll Polen zwischen dem Deutschen Reich und Russland aufgeteilt werden. Die Stimmung wird immer aufgeheizter: Viele Polen heißen die Invasoren willkommen, für Jüdinnen und Juden wird die Lage prekärer. Marie sollte eigentlich nichts zu befürchten haben: Ihr Vater Dominik ist angesehener Arzt und in der ganzen Stadt bekannt, auch mangelt es weder an Geld noch an Liebe. Doch Marie hat ein großes Loch im Herzen: Über das Schicksal ihrer Mutter weiß sie nichts, und ihr Vater schweigt beharrlich.
Marie ist jedoch ebenso stur wie intelligent. Sie weiß, dass ihr Vater stets sein Schlafzimmer abschließt, weshalb sie dort Antworten erhofft. Sie beschließt, einzubrechen, und tatsächlich entdeckt sie abgeschnittene Haare. Sollten diese etwa ihrer Mutter gehören? Auch wenn es ein erster Schritt für sie ist, kann sie doch wenig mit den Informationen anfangen.
Als sie weiter recherchiert, erfährt sie eine Überraschung von ganz anderer Seite: Ihr Kinderfreund Ben ist zurück in der Stadt, nachdem er in Deutschland studiert hat. Marie ist nach wie vor unsterblich in ihn verliebt, doch die aktuelle politische Stimmung bekommt sie nun am eigenen Leibe zu spüren: Ben ist Jude, und als solcher wird er selbst von seinen eigenen Landsleuten beschimpft. Marie als Katholikin hat keine Möglichkeit, eine Brücke zwischen den beiden Religionen zu bauen, um Hass und Misstrauen zu überwinden.
Marie steht vor zwei unmöglichen Aufgaben: Ihre große Liebe für sich zu gewinnen und die Wahrheit über ihre Mutter herauszufinden.
Perfekt austariert
Rachel Givney hat mit ihrem Debüt eine Geschichte geschrieben, die zur Zeit des Nationalsozialismus spielt. Es ist aber eher die Ruhe vor dem Sturm, die thematisiert wird, statt die Dramatik des Krieges selbst. Dadurch schafft sie eine elektrisierende Atmosphäre: Man weiß als außenstehender Leser, dass in nur wenigen Monaten ein Krieg ausbrechen wird, die Polinnen und Polen in dem Buch hoffen aber noch immer auf einen unblutigen Ausgang oder aber auf die Hilfe von Frankreich und Großbritannien. Dennoch ist die Stimmung unruhig, so mancher vorausschauender Krakauer verlässt das Land; einige verfolgen gebannt Hitlers Politik, während wieder andere die Augen vor der nahenden Katastrophe verschließen. Die Autorin hat ein großes Geschick bewiesen, das Pulverfass authentisch aufzubauen.
Im Mittelpunkt stehen aber natürlich Marie und ihr Vater Dominik, aus deren Sicht auch erzählt wird. Marie verliert immer mehr das Vertrauen in ihren Vater, während Dominik von der Angst getrieben wird, dass sein Geheimnis, das während des Ersten Weltkriegs seinen Anfang nahm, aufgedeckt wird und Marie so in Gefahr geraten könnte. Die Spannung, was nun wirklich mit Maries Mutter passiert ist, ist ein stetiges Kribbeln, und tatsächlich bleibt das Geheimnis auch bis zum Schluss im Dunkeln. Dann schlägt die Auflösung aber ein wie eine Bombe! Der Wahrheit wohnt eine Dramatik inne, die ich selten erlebt habe – Gänsehaut und Tränen inklusive! Es ist schade, dass es nicht schon mehr Bücher der Autorin gibt – ich könnte sie alle lesen. Umso beeindruckender, mit welcher Empathie und historischer Raffinesse sie diesen ersten Roman geschrieben hat.
Fazit
Eines der besten Bücher, das ich seit langem gelesen habe! Ein Buch, das ich nie wieder vergessen werde und unbedingt empfehlen möchte.
Deine Meinung zu »Das verschlossene Zimmer«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!