Künstlerin und Freigeist
Noch während Alexander LeMay in New York eine Mail an seine Tante Helene Klasing in Deutschland schreibt, erhält er die Nachricht von ihrem Tod. Das trifft ihn sehr, hat er doch eine lose, aber dennoch aussergewöhnliche Beziehung zu seiner Tante. Helene vererbt ihm ihr Haus in Heusenstamm und den Nachlass ihres künstlerischen Schaffens. Alexander steckt gerade in einer Lebenskrise und die Reise nach Deutschland kommt ihm gelegen. Vor Ort kann er noch einmal seiner Tante nachspüren und lässt ihr Leben Revue passieren.
Helene Klasing ist eine unabhängige Künstlerin und ein Freigeist. Als sie den politisch äusserst engagierten Lehrer Harald Kaufmann heiraten will, erfährt sie, dass sie als Baby zur Adoption freigegeben worden ist. Nach dem ersten grossen Schock macht sich Helene auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Sie findet heraus, dass sie adeliger Herkunft und im Zweiten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert ist. Dort hat sich Margarethe von Weisshaupt einen Namen als Designerin gemacht und eine Familie gegründet. Helene nimmt mit ihrer Mutter Kontakt auf und erfährt, dass es noch eine Halbschwester, Theresa, gibt. Vor allem mit ihr hält Helene über die Jahre Kontakt und auch Theresas Sohn Alexander ist mit der Tante aus Deutschland eng verbunden. Nach Helenes Tod ist es nun an ihm, den Nachlass zu sichten und über das weitere Vorgehen des künstlerischen Erbes zu bestimmen. Diese Arbeit wird für ihn sowohl Trauerbewältigung als auch Neuorientierung.
Zeiten im Wandel
Die Geschichte von Helene und ihrer Suche nach dem perfekten Kreis ist eine Reise in eine sich stark im Wandel befindlichen Zeit. Eine Zeit, in der die Jungen die alten Moralvorstellungen über Bord werfen und sich politisch engagieren. Dazu gehört auch die künstlerische Freiheit, wie sie Helene zu leben versucht.
«Er hatte sein Weltbild in den Rahmen gespannt und aufgehängt, sie hatte es nicht mal ansatzweise geschafft, es in Schieflage zu bringen. Und du, Helene, bist sowieso längst aus dem Rahmen gefallen.» (Quelle: Roman)
Das ist nicht immer leicht, gerade weil sich der Ballast der eigenen Herkunft nicht einfach so abwerfen lässt.
Martin Beyer rollt in seinem Roman die Zeit der 60er und 70er Jahre auf. Die politisch aktive Generation der Nachkriegskinder und ihr Freiheitsdrang sind ein wichtiges Thema. Gleichzeitig zeichnet er das Bild der älteren Generationen, die noch fest in ihren Traditionen und Moralvorstellungen verankert sind. Da prallen Welten auf einander und wenn dann ein Mädchen aus gutem Haus ein Kind erwartet, ist ein Skandal um jeden Preis zu vermeiden. Das musste Helenes Mutter am eigenen Leib erfahren. Ihr Kind wurde, auf Druck der Familie, zur Adoption freigegeben.
«Warum ich dich weggegeben habe, das willst du von mir wissen, und es ist eigentlich nicht schwer, die äusseren Gründe zu benennen. Warum ich dich nicht behalten habe, das ist eine ganz andere Frage. Die Frage nach den inneren Gründen. Ich weiss nicht, ob ich dir diese Frage beantworten kann.» (Quelle: Roman)
Helenes Weltanschauung passt nicht zum Bild ihrer Herkunft und bringt sie ins Zweifeln. Diesen Stilbruch in ihrem Leben muss sie verarbeiten. Sie tut dies auf ihre eigene, künstlerische Art und Weise.
Die Lektüre erfordert volle Aufmerksamkeit. Sprunghaft und viele Themen aufgreifend erzählt Martin Beyer erst zusammenhängend über die Jugendjahre von Helene. Dann plötzlich nimmt er überraschende Szenenwechsel vor, ohne dass diese stimmig wären. Nicht immer sind die Zusammenhänge offensichtlich und folgerichtig. Aber die Geschichte ermöglicht einen Einblick in das Zeitgeschehen und die gesellschaftlichen Strukturen der 60er und 70er Jahre bis hin zur Gegenwart.
Fazit
Die Geschichte hat viele Facetten und hält einige Wendungen bereit, die überraschen. Gleichzeitig ist es eine interessante Reise zurück in eine Zeit im Wandel und im Aufbruch – gesellschaftlich wie auch menschlich.
Deine Meinung zu »Tante Helene und das Buch der Kreise«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!