Ein historischer Querschnitt der Kriegszeit
Als Jüdin hatte Mala Ende der 1930er Jahre nur wenig Hoffnung auf eine Zukunft: Als Nazideutschland seinen Nachbarn überfiel, wurden die Jüdinnen und Juden dort in Ghettos gepfercht und sich selbst überlassen. Mala jedoch wollte überleben und schaffte es mit Glück und Verstand, die beschwerliche Zeit hinter sich zu lassen und schließlich ihre Geschichte zu erzählen.
„Einmal am Tag warf die Bäuerin beim Schweinefüttern im Stall die Essensabfälle ihrer Familie neben den Trog. Durch eine kleine Öffnung im Boden landeten die Abfälle bei den fünf hungrigen Menschen, die hier untergetaucht waren.“
Dieser kleine Ausschnitt aus der Überlebensgeschichte fünf unschuldiger Juden in Polen verrät viel über die Essenz dieses Buches: Zwar geht es primär um Mala Rivka Kizels Flucht aus Polens Hauptstadt nach Deutschland, doch sind es die kleinen Nebengeschichten, die die Zeit des Zweiten Weltkriegs in ihrer Gänze verstehen lassen.
Den niederländischen Journalist Pieter van Os faszinierte Malas Geschichte und er begann ihren Weg nachzuverfolgen. Unzählige Gespräche mit der hochbetagten Dame (sie starb 2020 mit über 90 Jahren) sowie Recherchen in Archiven, Zeitzeugnissen und Berichten führten schließlich zu diesem umfassenden Werk, das weit über Malas Überlebensweg hinausgeht.
Mala wurde in eine streng gläubige jüdisch-orthodoxe Familie mit acht Geschwistern hineingeboren. Wenngleich sie ihre Eltern liebte, so war ihr auch deren Strenge im Gedächtnis geblieben. Als der Krieg ausbrach, erschreckte Mala der Antisemitismus, der in Polen zwar zum Alltag gehörte, mit dem Einmarsch der Deutschen jedoch andere Dimensionen annahm. Während ihre Mutter bereits zuvor verstarb und ihr Vater schon Anfang der 40er Jahre, gelangten Mala und ihre Geschwister ins Warschauer Ghetto. Zu Malas Glück hatte sie ein arisches Aussehen, weshalb sie sich herausschlich und sich immer weitere Strecken traute. Diese Erlebnisse bildeten die Basis für ihre spätere Flucht, die sie schließlich bis nach Deutschland führen würde, wo sie sich unter glühenden Nationalsozialisten bewegen konnte.
Viel mehr als nur eine Überlebensgeschichte
Wie eingangs schon erwähnt, steht zwar Malas Erzählung im Mittelpunkt, doch weiß Pieter van Os vielmehr das gesellschaftliche Bild jener Zeit in jeder seiner Schichten zu durchleuchten. Da Malas Geschichte in Polen ihren Anfang nahm, berichtet van Os viel über dem dortigen Antisemitismus, der historisch sehr weit zurückgeht und auch nach dem Krieg nicht vorüber war. Er berichtet von Begebenheiten, wo sich Jüdinnen und Juden auf Bauernhöfen und in Dörfern zu verstecken versuchten, aber von Nicht-Juden denunziert und sogar verfolgt wurden.
Es schien, als hätte der Nationalsozialismus hier leichtes Spiel. Aber van Os beleuchtet wirklich von jeder Seite: Er macht klar, dass der Zweite Weltkrieg kein Schwarz und Weiß war – die jüdische Bevölkerung auf der einen, die Nationalsozialisten auf der anderen Seite. Vor allem Malas letzte Kriegsjahre verdeutlichen dies, da sie familiäre Herzlichkeit ausgerechnet in einer nationalsozialistisch geprägten Familie gefunden hat – ohne dass diese von Malas Herkunft wusste.
Diese Vielschichtigkeit hebt das Buch positiv hervor – leider zu Ungunsten eines einfachen Leseflusses (verschmerzbar, da das Thema nun einmal komplex ist) sowie einer tieferen Auseinandersetzung mit Malas Leben. Es ist verständlich, dass van Os auf Malas Erzählungen angewiesen ist und dass die Erinnerungen nach all den Jahren eine gewisse Nüchternheit erhalten. Allerdings erfährt man nicht viel über die Geschwister von Mala; manche werden nur nebenbei erwähnt und wie ihre Beziehung zu ihnen war, wird auch nicht richtig klar. Auch erfährt man nicht, was aus den Fluchtgefährtinnen von Mala geworden ist, die sie der beiderseitigen Sicherheit wegen irgendwann zurücklassen musste.
Die Nüchternheit wird noch dadurch verstärkt, dass es keinerlei Fotos gibt. Klar kann man nicht davon ausgehen, dass Mala irgendwelche Fotos aus der Zeit geblieben sind. Allerdings berichtet der Autor von Aufnahmen aus Archiven und anderen Quellen, die auch für das Buch hätten genutzt werden können. So bleiben nur zwei Karten von Malas Flucht sowie ihr Stammbaum, um sich ein wenig in ihre Situation hineinzuversetzen.
Fazit
Ein Buch mit enormem Hintergrundwissen, das einen teilweise erschlägt, aber den Kontext klar werden lässt. Malas Flucht kommt dadurch manchmal etwas zu kurz. Dennoch aufwühlend und spannend erzählt.
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