Glücklich, andere glücklich zu machen
Dots Geschichte ist berührend und geht zu Herzen. Eine scheinbar graue Maus vergräbt sich in den grauen und alten Räumen eines Fundbüros. Ihr Lebensinhalt scheint das Aushändigen verlorengegangener Gegenstände zu sein – und die Freude, jemanden mit dem Auffinden glücklich machen zu können. Doch hinter der aufgesetzten Maske trägt Dot schwer am Tod ihres Vaters, der Demenzerkrankung ihrer Mutter und der Dominanz ihrer Schwester.
Rückzug und vermeintlicher Schutz
Dot, eigentlich Dorothea, arbeitet bereits seit geraumer Zeit in einem Londoner Fundbüro. Hier werden die abgegebenen Gegenstände säuberlich etikettiert, aufgelistet und aufbewahrt, bis sich der Besitzer meldet. In dieser Umgebung fühlt sich Dot aufgehoben. Die Tagesabläufe sind klar. Die Kunden sind glücklich, wenn sie das Verlorene wiederfinden und dann ist es auch Dot. Aber hinter der freundlichen Fassade verbirgt sich eine traurige Seele.
«Denn ich kenne mich mit Verlust aus. Ich kenne seine Gestalt, seine Schwächen, seine Ecken und scharfen Kanten. Ich habe seine Koordinaten gespürt. Man kann sagen, ich kenne ihn in- und auswendig.» (Quelle: Roman)
Der Verlust ihres Vaters wiegt schwer und ihre Mutter lebt seit kurzem in einer Klinik für Demenzkranke. Die Beziehung zu ihrer Schwester ist schwierig. Dot zieht sich mehr und mehr zurück, vereinsamt zusehends. Sie lebt in Erinnerungen: Ihr Aufenthalt in Paris ist verbunden mit glücklichen und unbeschwerten Tagen als Studentin. Heute scheint alles im Grau des Alltags zu versinken.
Das ändert sich, als eines Tages Mr. Appleby, ein älterer Herr, im Fundbüro erscheint. Er vermisst eine honigfarbene Ledertasche mit Inhalt. Eine Erinnerung an seine verstorbene Frau. Dot macht es sich fortan zur Aufgabe, die Ledertasche zu finden. Mr. Appleby hat sie irgendwie berührt und etwas in ihr ausgelöst, etwas ins Rollen gebracht.
Humorvoll aber mit schwerer Schlagseite
Zu Beginn der Geschichte steht vor allem Dot und ihr Tagesablauf im Fundbüro im Mittelpunkt. Die Kapitel sind deshalb auch wie Etiketten beschriftet und weisen auf das Kommende hin. Humorvoll und mit viel Gespür für die einzelnen Charaktere beschreibt die Autorin ihre Figuren. Sie ermöglicht auf witzige und charmante Weise Einblicke in die Arbeitsabläufe im Fundbüro und dem Tagesgeschehen. Gespickt mit Anekdoten und Zitaten verbreitet sich eine amüsante und einnehmende Atmosphäre.
Ungefähr in der Mitte des Romans ändert sich die Stimmung. Der Focus verlagert sich von der Gegenwart in die Vergangenheit. Dots tiefe Verbundenheit mit ihrem Vater wird erkennbar und es schält sich die vermeintlich schwierige Beziehung zu Mutter und Schwester heraus. Es wird offensichtlich, weshalb Dot so schwer unter dem Verlust ihres Vaters leidet und sich die Schuld für seinen Tod gibt. Anschaulich erzählt die Autorin von den unterschiedlichen Leben der Protagonistin in London und in Paris. Diese Schwere in London, die Leichtigkeit in Paris.
Bedrückend beschreibt Helen Frances Paris, wie sich Dot immer mehr verkriecht und zusehends vereinsamt. Ein emotionaler Absturz und ein noch grösseres Chaos ist die Folge. Doch dann findet sie Mr. Applebys Ledertasche samt Inhalt, verliert dafür ihre Stelle und bekommt Flügel.
Helen Frances Paris beschreibt, was Minderwertigkeitskomplexe, Schuldgefühle und Fehleinschätzungen mit einem Menschen machen können. Das geht schon unter die Haut. Leider ist es stellenweise fast zu viel – eine Spur zu melodramatisch.
Fazit
Eine berührende Geschichte, die von Minderwertigkeitskomplexen, Verlustängsten und Schuldgefühlen erzählt – und was das mit einem Menschen macht. Treffend und bezaubernd gelingt die Beschreibung des Fundbüros und der unterschiedlichen Mitspieler. Perfekt, dass auch ein wenig Romantik den Schlusspunkt setzt.
Deine Meinung zu »Das Fundbüro der verlorenen Träume«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!