Eine Spurensuche in Wien
Shelly Kupferberg wurde in Tel Aviv geboren, wuchs aber in West-Berlin auf. Heute ist sie angesehene Moderatorin für verschiedene Kultur- und Gesellschaftssendungen und -projekte. Auf einer Veranstaltung zur NS-Raubkunst und Provenienzforschung, erinnerte sie sich an ihren Urgroßonkel Isidor, der ein Opfer der Naziherrschaft wurde.
Nachforschen und Nachfühlen
Anders als in anderen jüdischen Familien wurde die Zeit des Holocaust in Kupferbergs Familie erinnert und besprochen. So erfuhr sie bereits als Kind durch ihren Großvater, den österreichisch-israelischen Historiker Walter Grab, von ihrem Großonkel Isidor, der in Wien lebte und 1938 von den Nazis in den Tod getrieben wurde. Er war ein reicher Mann mit großem Einfluss und vielseitigen Interessen. Doch was wurde aus seiner umfangreichen Kunst- und Büchersammlung? Kupferberg begab sich auf die Suche nach den Schätzen und gleichzeitig auf die Suche nach einem Verwandten, der den Nazis zum Opfer fiel. Sie durchforstete Archive, sprach mit Verwandten, suchte die Spuren in Wien und auf dem Dachboden des großväterlichen Hauses in Tel Aviv. Gefunden hat sie einen Mann, der aus eigener Kraft der Armut entkam, zum Berater der österreichischen Regierung und Kunstsammler wurde, zwei Ehen und eine Geliebte hatte und die Bedrohung durch die Nazis erst zu spät schmerzhaft einsehen musste.
Die Distanz der nachfolgenden Generationen
Es gibt zahlreiche Erinnerungs-Literatur, die sich mit dem Holocaust befasst und die zu Recht als geistige „Stolpersteine“ bezeichnet werden kann. Noch lange Zeit nach dem Ende der Naziherrschaft allerdings gab es kaum öffentlich zugängliche Schriftstücke, die von dem Grauen und den Erlebnissen berichteten. Als sich dann die Stimmen erhoben, waren es Erzählungen von Menschen, die ihre persönlichen Schicksale teilten. Mittlerweile ist die Erinnerung auf die nächsten Generationen übergegangen, was zu einer Veränderung in den Texten führte. Die Autorinnen und Autoren von heute können nur auf Berichte aus zweiter Hand zurückgreifen, die eigenen Erinnerungen an diese Zeit fehlen. Die emotionale Komponente des direkt Erlebten fehlt dadurch oft in den Texten. So auch in „Isidor“. Zwar schildert die Autorin den Weg vom armen jüdischen Kind in Galizien, das es mit guter Ausbildung und festem Willen schafft, in die höchsten Kreise der Wiener Gesellschaft vorzustoßen und auf diesem Weg auch seine Geschwister mit nimmt, doch es bleibt eine ständige Distanz zwischen den Protagonisten, der Autorin und der Leserschaft. Kupferberg kann die Gefühle und Gedanken von Israel, später Isidor, und seinen Geschwistern und Freunden nur nachspüren und erahnen. Dadurch erfährt man zwar von der Gewalt, die der Familie angetan wurde, aber die hochemotionalen Berichte der ersten Generation werden nicht erreicht.
„Der Jud ist wieder da“
Doch Kupferberg schafft etwas anderes – sie kann berichten, was noch heute vom Holocaust zu spüren ist und wie mit ihm umgegangen wird. Das macht einen sehr interessanten Part in ihrem Buch aus. Wir erfahren von den damaligen Bemühungen beider Seiten, Isidors und der Nazis, die Kunstsammlung in Besitz zu halten oder zu kommen. Auch wenn der Hauptanteil des Buches dem Leben Isidors gewidmet ist, berichtet Kupferberg von ihren Recherchen und von Kunstgegenständen, die an verschiedenen Orten zu finden waren, von der Problematik der Provenienzforschung und Restitution, die auch heute noch so manche Hürde nehmen muss. Das erscheint wie eine Nachwehe des widerlichen Gedankengutes der Nazis, das sich auch nach dem Ende ihrer Herrschaft noch lange in den Köpfen mancher Menschen halten konnte. Als Kupferbergs Großvater Walter 1956 das erste Mal nach der Flucht sein Elternhaus in Wien besuchte, musste er den Ausruf „Der Jud ist wieder da“ ertragen – ein Satz, der lange nachhallt und schlimme Erinnerung und Mahnung gleichzeitig sein kann.
Fazit
Der Bericht über ein ereignisreiches Leben ist ein weiteres nötiges Erinnerungsstück zur Judenverfolgung durch die Nazis. Allerdings mangelt es, aufgrund der Perspektive, an direkten persönlichen Erfahrungen und damit an der meist hoch emotionalen Komponente in den Berichten der 1. Generation. Kupferberg kann aber auf Erfahrungen aus unserer Zeit zurückgreifen, erweitert dadurch das Feld. Unbedingt lesenswert!
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