Die Stadt der Lebenden

  • btb
  • Erschienen: Mai 2023
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Die Stadt der Lebenden
Die Stadt der Lebenden
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Yannic Niehr
901001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2023

Mondo di Mezzo

Rom im Frühjahr 2016. Ein unerwartetes Geständnis lässt die Ermittler der Stadt auf ein unglaubliches Verbrechen stoßen: In einer kleinen Wohnung in einem römischen Vorort wird die grausam zugerichtete Leiche des jungen Luca Varani gefunden, ermordet durch unzählige Hammerschläge, Erdrosselungen und Messerstiche. Varani stammte aus einfachen Verhältnissen; war in einer festen Beziehung und überall beliebt, lebte er in den Tag hinein und soll insgeheim auf den Strich gegangen sein, um an Geld zu gelangen.

Der Geständige: Manuel Foffo, Sohn eines Restaurantbesitzers. Ausgestattet mit zahlreichen Komplexen und einem unbändigen Hass auf den Vater, stand er lange Zeit im Schatten seines erfolgreichen Bruders und versucht sich nach seinem nur zum Teil bewältigten Studium mit verschiedenen Projekten wie einer App-Idee an einem großen Durchbruch.

Der Mittäter: Marco Prato, aus dem gut situierten Haushalt eines im höheren Kulturbetrieb angestellten Intellektuellen stammend. Der Eventmanager treibt sich gerne koksend in den höheren Kreisen der Schickeria herum und soll eine Vorliebe dafür haben, Heteromänner zu verführen. Sein Verhältnis zur eigenen Geschlechtsidentität ist nicht gänzlich klar, und auch bei ihm lässt sich eine Historie psychischer Leiden aufdecken.

Foffo und Prato, die sich zufällig kennenlernten, verband eine undurchsichtige, aber enge Beziehung. Nach mehreren Tagen gemeinsamer sexueller Experimente und Drogenexzesse sollen sie Varani zu sich bestellt und ihn dann – ohne klar ersichtliches Motiv – gemeinsam getötet haben.

Ein junger Journalist nimmt sich der unfassbaren Tat an und geht auf Spurensuche in einem Fall, der eine Stadt in Atem hält – und eine Schockwelle durch sämtliche Gesellschaftsschichten fahren lässt …

Wer Illusionen braucht, der sollte langes Verweilen in der Stadt vermeiden

Autor Nicola Lagioia debütierte 2001 mit Tre sistemi per sbarazzarsi di Tolstoj, hat seitdem zahlreiche, zum Teil preisgekrönte Romane (mit-)verfasst und sich zu einer starken Stimme der zeitgenössischen italienischen Literatur entwickelt. Neben seiner Tätigkeit als Lektor des Verlages minimum fax ist er zudem seit 2016 Mitglied der Leitung des „Salone Internationale del Libro“. Mit Die Stadt der Lebenden ist im btb-Verlag nun die deutsche Übersetzung eines Romans erschienen, der Lagioias Verarbeitung eines wahren Falles darstellt, dessen öffentliche Diskussion emblematisch ist für die Schattenseiten einer zutiefst zerrissenen Welt.

„Wir pumpten uns mit Zynismus voll, um den Zynismus zu überleben, der Roms wichtigste Lektion fürs Leben war"

Dass Lagioias Roman auf wahren Begebenheiten beruht, nimmt nicht allzu viel vorweg, denn dies verrät jede noch so oberflächliche Vorab-Recherche sofort. Dennoch fällt dies schwer zu glauben, sind die Tatsachen doch derart kurios. Was bewegt zwei junge Männer zu einem Mord an jemandem, den sie nicht kannten, scheinbar ohne jeglichen Grund? Lagioia selbst sollte sich zunächst journalistisch dieser Frage annehmen, hat seine Schriften aber schlussendlich in eine eher philosophische Meditation über den menschlichen Zustand verwandelt. So setzt er ein literarisches Ich in die Geschichte ein, das ein persönliches Interesse an deren Facetten hat, im Rahmen der Chronik der Ereignisse aber dankbarerweise nicht übermäßig viel Raum einnimmt.

Nach und nach wühlt sich Lagioia in seinem in 5 Teilen angeordneten Buch durch eine Schicht nach der anderen hindurch, sucht einen Anfangspunkt der Geschehnisse und rollt diese von dort auf, lässt Zeugen, Bekannte und Verwandte zu Wort kommen, um sich langsam zu einer Schilderung des Tathergangs vorzuarbeiten und anschließend vor den Scherben zu sitzen im nichtigen Versuch, allem ein Fazit abzuringen. Dabei changiert der Stil zwischen geisteswissenschaftlicher Abhandlung, journalistischem Bericht und spannendem Kriminalroman.

Besonders deutlich wird dabei die Geschmacklosigkeit, der sich jede wie auch immer geartete mediale Zurschaustellung des Falls ein Stück weit bezichtigen lassen muss – denn jeder dieser Versuche, dem entsetzlichen Ereignis einen Sinn abzugewinnen, geht einher mit dem Breittreten persönlicher menschlicher Schicksale und Tragödien. Und jedes brisante Detail, das zutage gefördert wird, scheint einem die ersehnten Antworten nicht näherzubringen, sondern sie nur in noch weitere Ferne zu rücken. Der Blick in den Abgrund lässt einen nicht zu der gesuchten, aber so flüchtigen Wurzel allen Übels vordringen, sondern nur zu einem bodenlosen, schwarzen Nichts. Wären die Täter nicht solch überlebensgroße Persönlichkeiten, könnte man die Geschichte treffend mit der „Banalität des Bösen“ betiteln.

Auch wenn der Lesefluss im häufigen Wechsel sprachlicher Modi manchmal ins Stocken kommt und die Spannungskurve in den letzten Zügen ein wenig nachlässt, bleibt das Buch durchgängig fesselnd.

„An diesem Abend im zehnten Stock der Via Igino Giordani schien es, als hätte sich all die Verzweiflung, die Missgunst, die Arroganz, die Grausamkeit, das Gefühl des Versagens, vor denen die Stadt barst, auf einen einzigen Punkt zusammengezogen“

In vielerlei Hinsicht ist Lagioias Roman auch ein Abgesang auf die Stadt Rom, in der Verkommenheit und Korruption die Bühne teilen mit Lebenshunger und Glückssucht. Die Ewige Stadt, in Literatur und Film häufig so gerne romantisiert und verklärt, wird hier bewusst nur insofern in den Kontext ihrer reichen Geschichte gestellt, als dass sie schon immer sämtliche Extreme der menschlichen Natur beherbergte und auch den niedersten Trieben in Verwaltung und Politik freimütig ein Parkett bot. Hier werden nicht Schönheit und Kultur betont, sondern Dreck, Schmutz und Schund, Sensationsgier und Egoismus – ein unmöglicher Ort der Ambivalenzen, der einen trotz (oder gerade wegen) seiner Beschaffenheit fasziniert und nie loslässt. Lagioia beschreibt Rom als modernen Sumpf, in dem die verschiedensten gesellschaftlichen Verhältnisse aufeinanderprallen, ohne wirklich koexistieren zu können, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen und dem darin lebenden Individuum wenig Orientierung geboten wird. Und trotzdem ist in all dem Platz für Blüten der Hoffnung, oder zumindest für ein gewisses Maß an Versöhnung mit der Unmöglichkeit der hiesigen Existenz. Man kann nicht mit Rom leben – aber auch nicht ohne.

Fazit

Die Stadt der Lebenden mischt Fakt und Fiktion zu einem journalistischen Kriminalroman, der anhand eines Verbrechens, das sich jeglichem Verständnis entzieht, das Sinnieren über die menschliche Natur und das Leben in einer Welt, die keinen Sinn mehr zu ergeben scheint, knallhart bis zum bitteren Ende durchexerziert. Düster, tiefsinnig, packend – ein Roman, der sich so wenig fassen lässt wie der ihm zugrunde liegende Fall. Lagioias Buch liegt schwer im Magen, ist aber ein großartig geschriebenes Werk, das man gelesen haben muss!

Die Stadt der Lebenden

Nicola Lagioia, btb

Die Stadt der Lebenden

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