Ode an das zerstörte Smyrna
Smyrna, das heutige Izmir, war eine kosmopolitische Stadt, in der Muslime, Armenier, Juden, Griechen und Levantiner friedlich miteinander lebten. Die Metropole an der Ägäis galt als eine Perle des Mittelmeeres. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches übernahmen die Griechen die Stadt, bevor 1922 die Türken unter Mustafa Kemal Atatürk sie gewaltsam zurückeroberten. Es kam zu zahlreichen Progromen gegen die Nicht-Türkische Bevölkerung. Wer Glück hatte konnte fliehen, wer nicht, wurde umgebracht oder kam in dem riesigen Feuer um, das die griechischen und armenischen Viertel der Stadt völlig zerstörte - das legendäre multikulturelle Smyrna gab es nicht mehr.
Defne Suman
Die türkische Autorin Defne Suman hat in Istanbul studiert und in Laos und Thailand als Lehrerin gearbeitet. Nach zehn Jahren auf Reisen rund um die Welt, kam sie in die Türkei zurück und veröffentlichte ihren ersten Roman. Seit dem hat sie zahlreiche Romane, Geschichten und Artikel geschrieben, die in ebenso zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Allerdings ist „Tochter einer leuchtenden Stadt“ der erste Roman, der auf Deutsch erscheint.
Vier Familien in Smyrna
Suman lässt vier Familien exemplarisch für die multikulturelle Gesellschaft in Smyrna agieren. Leider stellt sie die Mitglieder der levantinischen, griechischen, türkischen und armenischen Familien erst in einer Liste am Ende des Buches vor. Sie an den Anfang zu stellen, wäre wesentlich sinnvoller und auch hilfreicher gewesen, denn innerhalb des Geschehens werden die Perspektiven ebenso wie die Zeiten ohne Übergang gewechselt. Die zahlreichen Namen sind eine zusätzliche Herausforderung. Das macht das Verständnis der Geschichte nicht einfach, auch wenn die Zusammenfassung auf dem Cover eine Orientierungshilfe gibt. Dreh- und Angelpunkt ist Edith, die Tochter eines levantinischen Kaufmannes. Sie ist ebenso unangepasst, wie lebenshungrig. Für die leicht versnobte französische Gemeinde ist es schon ein Affront, dass sie alleine in einem großen Haus lebt und einen indischen Liebhaber hat. Erst im Laufe der Geschichte aber wird klar, dass sie ein noch viel größeres Geheimnis verbirgt. Doch auch das Schicksal anderer Frauen wird erzählt, was manchmal zusammenhanglos erscheint und scheinbar losgelöst voneinander stattfindet. Erst ganz zum Schluss laufen alle Fäden ineinander und es wird klar, was Edith Lamarck, Panayota Yağcіoğlu und Scheherazade miteinander zu tun haben.
Smyrna, die unumstrittene Protagonistin
Doch die eigentliche Protagonistin in diesem Roman ist die Stadt Smyrna. Defne Suman setzt mit diesem Roman ihr und „alle[n], die aus ihrer Heimat vertrieben wurden“ ein Denkmal. Immer wieder beschreibt sie die weltoffene Metropole, in der Religion keine Rolle spielte. Die Bevölkerung lebte zwar in ethnisch orientierten Stadtteilen, doch war ein friedliches Zusammenleben in der kosmopolitischen Stadt garantiert. Die Lebensgeschichten von Edith, Panayota und Scheherazade sind eng mit dieser Stadt verbunden und dienen eigentlich nur zur Darstellung ihrer Geschichte seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Das Leben in der schillernden Stadt mit ihren Geschäften, Cafés, Boulevards, der Hafenpromenade und dem geschäftigen Treiben überall wird genauso in die Leben der Frauen verpackt, wie die Einnahme durch die Griechen. Doch vor allem die Zurückeroberung durch die Türken wird sehr eindringlich geschildert und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack von unnötiger Brutalität und sinnloser Zerstörung. Die Schilderung des Lebens im heutigen Izmir schließt dann den Kreis und beendet die Geschichte der Stadt und auch die von Edith, Panayota und Scheherazade.
Keine leicht Lektüre
Die unterschiedlichen Perspektiven und die Zeitsprünge machen die Lektüre nicht einfach. Der leicht blumige Stil, mit Wörtern unterschiedlicher Sprachen und vor allem mit ständigen Andeutungen tut dann den Rest. Zwar ist das sprachgewaltig, aber auch sehr anspruchsvoll. Man muss konzentriert und möglichst ohne lange Pausen lesen, um am Ball zu bleiben. Die Liste der „Fremdwörter“ am Ende des Buches soll zwar zum Verständnis beitragen, hilft aber nur wenig, denn man entdeckt sie erst am Ende der Lektüre. Doch Suman schafft es dennoch zu fesseln. Schon die unangepasste Edith ist eine sehr interessante Figur und was es mit Panayota und der stummen Scheherazade auf sich hat, ist mysteriös und bleibt lange im Dunkeln. Zwar werden Anspielungen auf die Zusammenhänge gemacht, doch reichen die nicht aus, um das Ganze zu überblicken. Jedes einzelne Leben der Frauen ist durch ihre Herkunft bestimmt, vermittelt aber gleichzeitig viel von der kosmopolitischen Atmosphäre in Smyrna. Die fesselt genauso, wie die stückweise Enthüllung der Geheimnisse, die zum Finale ein großes Ganzes bilden. Das kann wiederum sehr traurig stimmen, ist gleichzeitig auch äußerst versöhnend.
Fazit
Defne Suman lässt das verlorene Smyrna und seine multikulturelle Bevölkerung auferstehen. Mit Sprachgewandtheit und geheimnisvollen Protagonistinnen fesselt sie die Leserschaft, macht aber auch gerade deshalb „Tochter einer leuchtenden Stadt“ zu einer Lektüre, die anspruchsvoll ist und Zeit zum konzentrierten Lesen einfordert.
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