Wie viel kann ein Mensch ertragen?
Die palästinensische Familie Abulhijas zahlt einen hohen Preis für die Realisierung des Staates Israel. Seit vielen Generationen bewirtschaften sie Land rund um ihr Heimatdorf, doch nun werden sie von dort vertrieben und müssen im Flüchtlingslager von Jenin unterkommen. Sie hoffen, das Leid ist nur ein Intermezzo und sie können bald wieder nach Hause zurückkehren, doch aus Monaten werden Jahre und Jahrzehnte. Krieg und Vertreibung zeichnen die Familiengeschichte der Abulhijas weiter, doch der Verzweiflung wird auch durch Liebe, Zusammenhalt und Hoffnung begegnet. Als die einzige Tochter Amal geboren wird, verbindet sich gerade ihr Schicksal ganz eng mit den Konflikten zwischen Palästinensern und Israelis.
Eine Autorin, die weiß wovon sie schreibt
Susan Abulhawa wurde 1970 als Kind palästinensischer Flüchtlinge geboren, wuchs bei Verwandten und im Waisenhaus auf, bevor sie als Teenager nach Amerika kam, wo sie studierte und auch heute noch wohnt. Eine Reise nach Jordanien, während der sie die Lebensumstände der Palästinenser kennenlernte, machte sie zu einer politisch engagierten Aktivistin. Sie setzt sich mit Veröffentlichungen und Auftritten für die Sache der Palästinenser ein und sorgt mit ihrer NGO „Playgrounds for Palestine“ dafür, dass in den Flüchtlingslagern und Palästinensergebieten Spielplätze erhalten oder neu gebaut werden. „Während die Welt schlief“ war ihr erster Roman, der bereits 2010 im Original und 2012 auch schon auf Deutsch erschienen ist. Jetzt liegt eine Neuauflage des Romans vor, der mit Amal und ihrem Leben so viel von der Biografie der Autorin selbst aufweist.
Eine literarische Geschichtsstunde
„Während die Welt schlief“ ist ein Vier-Generationenroman, der als Familiengeschichte den Nahostkonflikt von Anbeginn im Jahr 1947 bis in unsere heutige Zeit thematisiert. Zwangsläufig wird das Geschehen aus der Sicht der Palästinenser geschildert, doch auch die Zerrissenheit innerhalb der israelischen Bevölkerung ist deutlich zu erkennen. Nicht alle sind mit dem von Gewalt und Ausgrenzung geprägten Umgang mit den Palästinensern einverstanden. In einem, manchmal sehr an die orientalische Erzähltradition erinnernden, blumigen Stil entführt uns die Autorin direkt in eine Welt, die viele von uns nur von außen, aus Nachrichten und Schreckensmeldungen, kennen dürften. Wir erleben zusammen mit Amal und ihrer Familie den Horror der Vertreibung, diverse Anschläge, das Massaker in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila und die s.g. Militäroperation 2002 in Jenin, die das Flüchtlingslager ausradierte und zahlreiche zivile Opfer forderte. Doch vor allem erzählt Abulhawa von dem Leben der Menschen, die im Lager zusammengepfercht sind, von ihren Hoffnungen und Ängsten. Damit schafft die Autorin eine Art literarische Geschichtsstunde, die auf sehr fesselnde Art Einblicke in die Lage eines Volkes zeigt, dass manchmal als „das Vergessene“ bezeichnet wird.
Verschiedene Perspektiven, aber vor allem Amal
Susan Abulhawa beschränkt sich nicht auf eine Perspektive, sondern lässt verschiedene Menschen erzählen. Doch Amal ist die Protagonistin, deren Leben von Beginn an in den Bann zieht. Sie erzählt in Ich-Perspektive, was sie ihr als Figur noch mehr Tiefe und Charakter verleiht. Doch auch ihre Erlebnisse werden manchmal noch durch eine andere Person und deren Perspektive ergänzt, was dafür sorgt, dass Ereignisse anders gesehen werden können. Amal zeigt die ganze Zerrissenheit entwurzelter Menschen, deren Zukunft völlig im Dunkeln liegt, für die Perspektivlosigkeit Alltag ist. Aber sie erzählt auch von den Freuden, die Kinder dennoch erleben dürfen, von dem Zusammenhalt und der Liebe der Familienangehörigen zueinander. Sehr glaubwürdig strickt Abulhawa hier eine fiktive Lebensgeschichte, die manchmal tief erschüttert. Amal erlebt so viel Grausamkeit und Gewalt, dass sie ihr Herz zum Schutz verschließt, nur um nicht zu viel Liebe zu empfinden, die dann wieder in Schmerz zerstört werden könnte.
„Die himmelblaue, in der Mitte aufgeschlitzte Dishdasha schwebte in einer Ecke meines Bewusstseins, an dem Ort, an dem ich schon vor langer Zeit die Lichter gelöscht hatte, und breitete sich wie eine Wolke über mir aus“ oder „Ari, der Mann, der nicht heiraten konnte, weil er, wie ich, die Liebe mehr fürchtete als den Tod. Weil die Kehrseite der Liebe für die Gehassten und Verfolgten einen unerträglichen Verlust bedeutet“, sind Beispiele für Amals emotionale Not, die ihr Leben bestimmt.
Eine emotional fordernde Geschichte
Susan Abulhawa schreibt sehr eingängig und fesselnd. Doch ihre Ausführungen fordern emotional und setzten manchmal ein Kopfkino in Gang, das man eigentlich nicht haben möchte. Man muss zwangsläufig auch mit viel Gewalt in der Geschichte zurechtkommen, denn das Leben der Palästinenser ist durch sie geprägt. Aber gerade die Schilderungen aus Amals Kindheit lassen auch kleine Lichtblicke zu, wenn sie z.B. zusammen mit Freundin Huda spielt und sie ihrer Puppe Warda ein kleines Haus bauen, auch wenn diese nur einarmig ist und von einem Abfallhaufen stammt. Abulhawa schafft es spielend, das große Ganze in die kleine Welt der Familie Abulhija zu packen, die sich sogar bis Amerika ausbreitet, doch ewig mit der Enge des Flüchtlingscamps von Jenin verbunden ist.
Fazit
Ein wunderbares Buch von Liebe und Zusammenhalt, aber auch von Gewalt und Vertreibung. Susan Abuhawa beschreibt fesselnd und tiefschürfend die Familiengeschichte der Abuhijas, die das ganze Ausmaß der palästinensischen Historie seit 1947 beinhaltet. Emotional fordernd erlangt man so Einblicke in eine Welt, von der man sonst nur wenig erfährt.
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