Das unstete Stochern im Nebel der eigenen Identität
Die letzte Chance: Nachdem er sich lange Zeit erfolglos im Malen versuchte, hat es ein junger, namenloser Schriftsteller mit seinem ersten Buch – einem Sammelband von Erzählungen – zu plötzlichem Ruhm gebracht, sodass ein Nachfolgewerk von ihm gefordert wird. Doch zu dem großen Roman über West Virginia, den er zu schreiben gedenkt, kann er sich einfach nicht aufraffen und bringt seinen Vorschuss durch, ohne ein Wort zu Papier gebracht zu haben. Da erreicht ihn ein seltsames Angebot: Ein hochangesehener Physiker möchte hat ausgerechnet ihn auserkoren, seine Memoiren zu verfassen, und duldet – trotz des verständlichen Widerstandes von Seiten des Verlags – keine Widerrede. Der Schriftsteller wird Tonbandaufnahmen über Leben und Wirken des Physikers erhalten, diese Kapitel für Kapitel niederschreiben und ebenso dafür bezahlt werden, und erhält so eine Perspektive, tröpfchenweise seine Schulden begleichen zu können.
Was nur seine im digitalen Design tätige Frau Annie weiß: Der Schriftsteller leidet zeit seines Lebens an heftigen Depressionen, die sein ganzes Dasein im privaten wie im professionellen Rahmen bestimmen. Schon mehrere Suizidversuche hat er hinter sich, und reißt sich oftmals nur mehr aus Liebe zu seiner Frau zusammen. Dieser Auftrag ist ein verzweifelter Versuch, sich trotz dieser Umstände aus seinem selbst geschaufelten Grab herauszuwühlen. Doch gerade, als es interessant wird, verschwindet der Physiker spurlos. Der Schriftsteller begibt sich auf die Suche – und findet dabei erstaunlich es heraus über das hauptberuflich kreativ Sein, über den „roten Pfeil“ und die „große Erkenntnis“, über eine neuartige bewusstseinserweiternde (drogenbasierte) Behandlung zur Besserung der mental health, das Zusammensetzen des Selbst aus einem Mosaik aus Zitaten, sowie über den Zusammenhang von Raumzeit und Erinnerung in- und außerhalb des menschlichen Geistes …
„Also ist das die Zeit: Sie liegt vollständig in der Gegenwart, in unserem Geist als Erinnerung und Vorwegnahme“
William Brewer wurde 1989 in West Virginia geboren und doziert heute an der Stanford Universität. Schriftstellerisch trat er hauptsächlich mit Gedichten in Erscheinung, die 2017 im vielprämierten Sammelband I Know Your Kind veröffentlicht wurden. Bei Der rote Pfeil handelt es sich um Brewers Romandebut. Zwischen dessen Inhalt und seinem Autor lassen sich also schon auf den ersten Blick einige autobiographische Parallelen erkennen. Wie tief diese wirklich gehen, wird vermutlich verborgen bleiben. Doch tut dies der Aussagekraft des Werkes keinerlei Abbruch.
„Erkenntnisse, Entdeckungen – so etwas verstehen die Leute immer falsch. Das sind keine Erfindungen. Das sind Augenblicke, in denen wir endlich sehen, was schon immer da war“
Wie der Physiker das Wesen der Zeit dekonstruiert, so ist auch der Text ein Labyrinth aus Erinnerungen, Vor- und Rückblenden sowie Nabelschauen und Reflektionen. Der junge Ghostwriter sucht nicht nur nach dem Physiker, über dessen Lebensgeschichte er zu schreiben begonnen hat, sondern er sucht auch nach einem für ihn funktionalen Selbstverständnis, und beschäftigt sich dabei mit Philosophie, Psychologie und Metaphysik, die zunehmend durcheinander gefiltert werden – dies alles in einem anspruchsvollen, aber mitreißenden Textfluss, der durch scharfe Einsichten, Wortgewandtheit, Dynamik und Facettenreichtum besticht (den Lyriker merkt man Brewer durchaus an). Obwohl er dadurch von Anfang an äußerst anspruchsvoll ist, hält der Roman mit seiner Sogkraft in Atem.
Vor allem aber handelt es sich um eine erfrischend ehrliche und nachvollziehbare literarische Auseinandersetzung mit dem spiralförmigen, sich selbst verstärkenden Wesen der Depression, die der Protagonist als „den Nebel“ beschreibt, der ihn bereits sein ganzes Leben lang begleitet und geprägt hat, und die vielen inneren Tode, die sie mit sich bringt. In seiner Recherche zu den Arbeiten des Physikers sowie im späteren Verlauf der „Behandlung“, die sein Leben verändern soll, taucht er dabei immer tiefer in seine eigenen Erinnerungen ein und unternimmt eine Reise nicht nur in der Wirklichkeit, sondern parallel im Inneren, wobei die Grenzen der verschiedensten Bewusstseinsebenen in Zeit und Raum zu verschwimmen beginnen. Besonders stark wird zum Ausdruck gebracht, wie nachhaltig die Depression Wahrnehmung und Selbstverständnis negativ verzerren kann und einen zwingt, die Positionierung gegenüber dem eigenen Schaffen und Sein unaufhörlich in Frage zu stellen. Auf der Metaebene begibt wird die Leserschaft also mit hineingerissen in die Auseinandersetzung William Brewers mit seiner Rolle als Autor, die zwischen den Zeilen eines verwirrenden, aber faszinierenden, verstörenden, aber einfühlsamen, schmerzhaften, aber hochintelligenten Buches über die menschliche Psyche stattfindet.
Fazit
Der rote Pfeil ist ein beeindruckender Erstlingsroman einer jungen literarischen Stimme, die genau weiß, was sie zum Ausdruck bringen möchte. Zwar keine leichte Kost, oszilliert der Text so fließend zwischen Porträt eines Kreativen und psychedelischem Trip, dass man sich ihm einfach nicht entziehen kann. Ein unvergleichliches Buch, das mit der bloßen, nachhallenden und kunstfertigen Kraft der Literatur und des Erzählens die Kluft zwischen dem Persönlichen und dem Universellen zu überbrücken vermag!
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