Unter Freunden stirbt man nicht
- Kein & Aber
- Erschienen: Juli 2023
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Erhalten Tote noch einen Nobelpreis? Geheimniskrämerei ohne überlegten Plan
Avischai ist tot! Mit dieser Realität müssen sich seine langjährigen Freunde Sohara, Amos, Jehuda und Nili abfinden. Aber das darf nicht sein, denn er ist als weltweit bekannter Forscher im Bereich der Volkswirtschaft für den Nobelpreis nominiert. Zumindest munkelt man das. Doch Tote bekommen bekanntlich keinen Preis verliehen. Die Freunde sitzen grübelnd in Avischais Wohnung und überlegen, was nun zu tun ist. Gemeinsam entscheiden sie: Es darf noch niemand erfahren, dass der Professor gestorben ist! So hecken sie einen relativ unausgegorenen Plan aus, wie sie es schaffen wollen, sein Ableben geheim zu halten. Dabei kommen so manche Konflikte und Geheimnisse ans Tageslicht.
„Einen Toten am Leben zu erhalten, einfach so, war das eine brauchbare Idee?“
Zunächst sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem Roman der israelischen Schriftstellerin, die in ihrem Heimatland sehr bekannt ist, nicht um leichte Lesekost handelt. Auch wenn der Aufkleber auf dem Cover des Romans darauf hindeutet, dass diese Lektüre als Vorlage zu einer vierteiligen Miniserie (2021) genutzt wurde, in der namhafte deutsche Schauspieler mitwirken. Der Einstieg ins Romangeschehen beginnt abrupt, hier ist Freundin Sohara auf dem Weg zu Avischai, um ihn zu besuchen. Von seinem Tod hat sie noch keine Kenntnis, sie findet ihn kurz danach leblos auf seinem Bett liegend. Die Autorin hat eine besondere Art des Erzählens gewählt, so wird das Geschehen immer aus der Sicht eines anderen Freundes bzw. einer anderen Freundin geschildert. Überall taucht der allwissende Erzähler auf, die Schilderungen erfolgen nicht in der Ich-Perspektive der jeweiligen Figur.
Zu Beginn muss man sich erst in Yedlins Sprachduktus einfinden, denn die formulierten Sätze sind lang und verschachtelt. Die Autorin verzichtet auf direkte Rede, baut Gedanken, Gespräche, aber auch Briefe, Interneteinträge, Mails mit in den fließenden Text ein. Das ist für den Lesefluss nicht immer nützlich, zieht sich aber durch den gesamten Roman. Durch die vielschichtigen und intensiven Beobachtungen und Gedanken der Figuren, die Yedlin erzählen möchte, verliert sich das Geschehen an manchen Stellen in unnötigen Längen. Man muss als LeserIn an einer bestimmten Stelle verharren, wobei man gedanklich aber eigentlich schon einen Schritt weiter gehen möchte.
Makaber und unterschwellig humorig, voller lebendiger Bilder
Der Roman lebt besonders von den ungesagten Worten, die, die man zwischen den Zeilen lesen muss. Auch das lernt man erst nach einigen Seiten, wenn man versucht, sich sprachlich in dem Roman zurecht zu finden. Mit ein wenig Geduld kann man dann die Entwicklung der jeweiligen Figuren beobachten und deren Lebensweisen, Geheimnisse und ungesagte Gedanken verfolgen. Hier wird deutlich, dass jeder bzw. jede irgendwo die ein oder andere Leiche, natürlich nur bildlich gesprochen, im Keller hat.
Die Handlung erstreckt sich über einen kurzen Zeitraum von etwa zwei Wochen, die Kapitel sind in Wochentage und Figuren unterteilt. Schwierig ist die Identifikation mit den Romanfiguren, sie halten die Lesenden eher auf Abstand. Deutlich werden aber die Spannungen zwischen den langjährigen Freunden, auch und besonders über den Tod hinaus währt trotzdem ihre Loyalität zueinander. Makabere, unterschwellig humorige Situationen finden sich immer wieder, beispielsweise, als sich die Freunde in einer Reihe vor der Schlafzimmertür des Verstorbenen aufstellen, um riechen zu können, ob schon üble Gerüche von ihm ausgehen. Die Verwesung des Leichnams ist biologisch nicht aufzuhalten. Auch der Gedanke, den Toten komplett anzuziehen, um seine Würde zu erhalten, die Überlegungen, wie sie ihn denn jetzt lange genug offiziell am Leben erhalten können, ohne dass sein Tod auffällt, weisen auf eine alles andere als alltägliche Situation hin. Dabei wird immer deutlicher, dass die Freunde eigentlich überhaupt keinen Plan geschmiedet und nur impulsiv gehandelt haben.
Die „Last der Geheimnisse“ – Was verbergen die Freunde voreinander?
Vor allem Sohara, die Avischai gefunden hat, leidet unter der „Last der Geheimnisse“, die doch auf allen Schultern liegt. Mit der immer weiter fortschreitenden Verwesung von Avischais Körper finden die Freunde wieder richtig zusammen, äußern überraschend tiefgreifende Gedanken und machen deutlich, dass man doch immer zusammenhält, egal, was einen vorher unbewusst trennte. Jeder neue Abschnitt offenbart das humane Gedankengut, die moralischen Instanzen, das Zusammenrücken, die Grenzen, die neu verschobenen und gemeinsamen Ziele, die gesteckt werden – doch dennoch immer vor dem Hintergrund sowohl der individuellen als auch der gemeinsamen Geschichte. So wird beispielsweise Amos noch einmal richtig deutlich, dass er die Karriere seiner Frau hasst. Er hat es nie ausgesprochen oder jemandem gesagt, aber die neuen Gedanken, die ihn bewusst durchströmen, lassen ihn das noch einmal deutlich spüren.
Fazit
Den Nobelpreis erhalten, wenn man tot ist? Funktioniert das? Die Freunde rund um den verstorbenen Forscher Avischai Sar-Schalom sind sich da nicht sicher, so schmieden sie den relativ impulsiven Plan, ihn zumindest in der Öffentlichkeit noch am Leben zu erhalten. Doch was sollen sie bis zur Bestattung mit der Leiche machen und wie verändert das ihr aller Leben? Ein Roman, der tiefgreifende Gedanken aufkommen und einen differenzierten Fokus auf das Geschehen zulässt – aber nur, wenn man sich als Lesender dahingehend öffnet, zwischen den Zeilen lesen zu wollen und nicht jede Offensichtlichkeit zu glauben.
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