Zwischen Nord und Nacht

  • Insel
  • Erschienen: November 2022
  • 0
Zwischen Nord und Nacht
Zwischen Nord und Nacht
Wertung wird geladen
Carola Krauße-Reim
821001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2023

Mutterliebe

Die Norwegerin Gøhril Gabrielsen ist in ihrem Heimatland wesentlich bekannter als bei uns. Ihre Romane wurden von der Kritik gelobt und erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Doch in Deutschland erschien bis jetzt nur „Die Einsamkeit der Seevögel“. Jetzt legt der Insel Verlag mit „Zwischen Nord und Nacht“ nach und schürt damit die Hoffnung, dass zumindest alle zukünftigen Romane der Autorin zügig auch in deutscher Sprache erscheinen werden.

Marie mit Lu und Helena mit Edith

Lu hat sich von ihrer Mutter abgenabelt und steht auf eigenen Füßen – ganz im Sinne von Marie. Doch als Tor in Lus Leben tritt, hat Marie das Gefühl eingreifen zu müssen um Schlimmes zu verhindern. Hilfe sucht sie dabei in einer anderen Mutter-Tochter Beziehung, die vor vielen Jahren ganz anders verlief. Die Mutter der späteren Lyrikerin Edith Södergran hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Tochter und tat alles um sie zu schützen. Kann die Bibliothekarin Hilfe in den Aufzeichnungen von Helena finden und helfen ihr vielleicht sogar Ediths Gedichte weiter?

Edith Södergran

Die finnlandschwedische Edith Södergran (1892 - 1929) ist eine historische Figur. Als Dichterin ging sie in ihren Werken völlig neue Wege und verfasste in bildgewaltiger Sprache Gedichte, wie es sie so vorher noch nie gab. Das brachte ihr Anerkennung bei den Kritikern ein, doch blieb der große Erfolg aus. Ihre eigene Aussage, Lyrik nur für Auserwählte zu schreiben, dürfte diesen geringen Anklang in der Öffentlichkeit annäherungsweise erklären.

Ein immer aktuelles Thema

Die Beziehung von Müttern zu ihren Kindern ist ein weites Feld und ein ewig aktuelles Thema. Gabrielsen skizziert in ihrem Roman zwei gegensätzliche Möglichkeiten eines Mutter-Kind-Konfliktes. Marie fühlt stets die Verbundenheit zu ihrer Tochter Lu, doch sie erkennt auch die dadurch entstandenen Einschränkungen. Sie vermisst die eigene Freiheit und schafft sich von Anfang an Freiräume, in denen sie nur Marie und nicht Mutter von Lu sein kann. Helena war wie Marie alleinerziehend, doch sie ging mit der Mutterschaft und ihrer Liebe zu Edith ganz anders um. Durch den vorhergehenden Verlust eines Kindes, klammert sie sich an Edith, wird zur Helikoptermutter und war damit das komplette Gegenteil von Marie heute.

Gabrielsen wechselt immer die Perspektiven, wobei Marie ihre Geschichte selbst erzählt. Dadurch erfahren wir natürlich alles nur aus ihrer Sicht, was eine neutrale Betrachtung ihrer Beziehung zu Lu erschwert. Die Probleme dieses Verhältnisses lassen sich anfangs nur erahnen und werden uns erst sehr spät offenbart. Helenas Leben wird dagegen von außen betrachtet, was uns relativ schnell tiefere Einblicke erlaubt. Das Thema ist interessant und lädt zur Reflexion geradezu ein. Doch was den Roman wirklich von der Masse abhebt, ist der Schreibstil.

Poetisch und packend

Der Roman kommt fast ohne Dialoge aus. Die wenigen, die vorkommen, sind wie in einem Theaterstück gehalten.

Helena: Meine liebe Don Quijote, was hast du heute erlebt?

Edith: Nichts Besonderes, Mama.

Das und die langen narrativen Passagen hätten der Todesstoß für die Geschichte sein können. Doch Gabrielsen schafft es dennoch die Leserschaft in ihren Bann zu ziehen, denn sie erzählt in einer exquisiten Sprache, die nie langweilig wird. Sie schwört damit Bilder herauf, arbeitet sich behutsam durch alle Schichten der beiden sehr unterschiedlichen Beziehungen und hinterlässt dadurch einen tiefbleibenden Eindruck.

„Alle hatten sich früh zurückgezogen, mitgenommen und erschöpft von Emotionen, die sich so heftig Bahn gebrochen hatten, doch in der Stille ihrer Schlafkammer fand Helena keine Ruhe, ihr Gewissen scheuchte sie wie eine Beute von einer Stunde zur nächsten, es drängte sie und nagte bis ins Mark an ihrem Selbstbild, es schnüffelte an ihren Mängeln und wühlte zwischen ihren Unzulänglichkeiten.“

Als Marie die schwierige Lage ihrer Tochter erkennt und deren Verletzlichkeit schlagartig und quälend offensichtlich wird, streut Gabrielsen zudem vermehrt Zitate aus Gedichten von Edith Södergren ein.

„Die Himmel wölben sich höher und höher, und ein Menschenkind ertrinkt in endlosen Nebeln und weiß keine Antwort.“

Dadurch präsentiert sie nicht nur einen Roman mit stets aktuellem Thema in sehr ausdrucksstarker Sprache, sondern macht auch neugierig auf eine längst verstorbene Dichterin, die ebenfalls durch ihren außergewöhnlichen Stil für Aufmerksamkeit sorgte.

Fazit

„Zwischen Nord und Nacht“ ist fesselnd und fordernd zugleich. Eine immer aktuelle und dadurch auch alltägliche Geschichte wird in einem exquisiten, ausdrucksstarken Stil erzählt, auf den man sich einlassen muss, will man diesen Roman wirklich in seiner Gänze genießen. Empfehlenswert für alle, die neben einer fesselnden Geschichte auch Gefallen an einem elaborierten Stil finden.

Zwischen Nord und Nacht

Gøhril Gabrielsen, Insel

Zwischen Nord und Nacht

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Zwischen Nord und Nacht«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik