Das glückliche Geheimnis

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Thomas Gisbertz
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Belletristik-Couch Rezension vonMär 2023

Arno Geiger ist einfach ein literarisches Geschenk

„Es gibt dunkle Geheimnisse, und es gibt glückliche Geheimnisse. Mein glückliches Geheimnis bestand fünfundzwanzig Jahre lang darin, dass ich in Wien ausgedehnte Streifzüge machte und die an den Straßen stehenden, für Altpapier vorgesehenen Behältnisse erkundete auf der Suche nach für mich Interessanten“. Mit diesen Worten beginnt die autobiografische Erzählung des österreichischen Erfolgsautors Arno Geiger. Ein Vierteljahrhundert war das, was andere wegwerfen, ein Teil seines Lebens und hat ihn als Mensch wie auch als Schriftsteller nachhaltig geprägt. Aber der Autor ist sich bewusst, dass alles, was er in seinem aktuellen Werk beschreibt, lediglich eine Stilisierung dessen sein kann, was er erlebt hat. Doch gleichzeitig werden seine Erlebnisse damit zu Literatur. Ein Autor, der über seine Leidenschaft für Müll schreibt. Es ist dem großen Talent des gebürtigen Bregenzers Geiger zu verdanken, dass dabei ein wunderbares Kleinod über Liebe, Trauer, Tod, Familie, aber auch der grenzenlosen Leidenschaft für Literatur entsteht.

Ein Ausnahmeschriftsteller

Kaum ein Literat hat in den knapp zwei Jahrzehnten so viele wunderbare, berührende Romane geschrieben wie der Österreicher Arno Geiger - und damit ebenso zahlreiche Auszeichnungen gewonnen. Der Hölderlin-Preisträger wurde 1968 in Bregenz geboren und lebt aktuell in Wien und seiner alten Heimat Wolfurt. Fünf Jahre nach seinem letzten großen Roman „Unter der Drachenwand“ legt Geiger nun eine ganz persönliche, intime Erzählung vor, die in einer wunderbar klaren, einfachen und doch kraftvollen Sprache geschrieben ist.

Geiger steht kurz vor dem Abschluss seines Studiums, als er zum ersten Mal der Faszination seiner besonderen Wiener Streifzüge erliegt. Das stundenlange Gehen und das Unabsehbare sind es, was ihn immer wieder aufs Neue begeistert. Das, was er findet, behält er aber nur zum Teil. Geiger, der zu diesem Zeitpunkt in einer einfachen Wohnung mit kärglichem Inventar und Gemeinschafts-WC auf dem Flur wohnt, repariert und restauriert seine Funde in unzähligen Stunden, um sie auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Dies hält ihn finanziell über Wasser.

Aber Geiger tritt auf der Stelle - sowohl was seine Arbeit als Schriftsteller als auch seine Beziehung betrifft. Immer häufiger scheint er ein „depressives Intermezzo“ zu durchlaufen, wie er es nennt. Sein Leben ist von Selbstzweifeln, Orientierungslosigkeit und Verunsicherung geprägt und scheint irgendwie stehengeblieben zu sein. Wonach sich der junge Autor sehnt, ist die „Farbigkeit des Lebens“. Er verschiebt seine Sehnsüchte ins Schreiben und versucht sich so literarisch dem wahren Leben anzunähern. Kurz darauf flüchtet Geiger sich regelrecht in ein Stipendium in Berlin. Dort genießt er in einer Villa am Wannsee das Leben. Berlin erscheint für ihn als Stadt der Verheißung, eine völlige Abkehr von Wien. Er genießt sein Leben in vielerlei Hinsicht bis ins Extreme. Aber sein Glück findet er dort, wo er herkommt: in Wolfurt. Hier lernt er K., seine spätere Ehefrau, kennen.

Über das Schreiben

Gleichzeitig verlebt er in seinem Heimatort auch viele bittere Stunden: Sein Vater erkrankt an Demenz, seine Mutter, die schon seit einigen Jahren nicht mehr hier lebt, erleidet einen Schlaganfall. Auch hiervon handelt die Erzählung: von der wachsenden Sorge um die Eltern. Vielleicht sind es genau diese höchst persönlichen Momente, die das Buch so wertvoll machen. In vollkommener Offenheit erzählt Geiger von zutiefst bewegenden Begegnungen mit Vater und Mutter. Diese „unverkrampfte Direktheit“, wie Geiger es nennt und die er in vielen der gefundenen Briefen findet, beeindruckt und beeinflusst ihn gleichermaßen. Mehr noch: Sie verändert sein Schreiben. „Diese Offenheit passiert mir nicht einfach, ich entscheide mich bewusst für sie, weil ich glaube, dass sie das Leben sichtbar macht. Das ist es, worum es mir in Literatur geht: das Leben sichtbar und dadurch verständlicher machen“, so Arno Geiger. Doch die zahlreichen gefundenen Briefe und Konvolute bergen für die Österreicher noch ein weiteres, latentes Geheimnis. Wenn er sie liest, ist es, als würde er „liegengebliebene Zeit berühren und sie durch das Berühren zum Verstreichen bringen“. Die Stimmen werden für ihn zu Charaktere, werden für Momente wieder Realität, flüstern ihm zu. Und Geiger hört zu und saugt auf, was sie ihm sagen. Aber gleichzeitig nimmt der Autor die gefundenen Texte nicht retrospektiv wahr, sondern lässt sie Teil seines jetzigen Lebens werden.

Ohne Zugang zu Alltagstexten, wie er sie im Altpapier fand, hätte er schlechter gelebt und seine Romane anders geschrieben, als er es tat, glaubt Geiger. Man könne nicht unzählige private Briefe lesen, ohne dass die Lektüre etwas mit einem mache. Doch nur Ausnahmekönner wie Arno Geiger schaffen daraus ein Kunstwerk. Doch hierfür müsse man „wissen und begreifen, wie die andern leben“, nur so könne der Blick auf andere Menschen wesentlich sein. Dies sei eine große Herausforderung als Schriftsteller. Denn der Stoff müsse einem „emotional gehören […], um damit arbeiten zu können.“

Blick auf die Gesellschaft

Geiger hat in seinem Leben als „Wanderer durch Wien“ nicht nur erfahren, dass er sich wandelt, sondern mit ihm auch die Gesellschaft und das, was sie liest: „Die Liebesromane wurden Jahr für Jahr weniger, die Kriminalromane Jahr für Jahr mehr. […] Auch darin machte sich bemerkbar, dass der gesellschaftliche Wind rauer wurde.“ So gelangte Geiger nicht nur hierdurch zu einer guten Kenntnis über die Gesellschaft, die sich in seinen Romanen wiederfindet. Der Bregenzer hat erkannt, dass Briefe - auch wenn sie auf dem Müll landen - mehr sind als Abfall und dass man die Gedanken und Geschriebenes vergangener Tage nicht gegen den Kilopreis Altpapier aufwiegen darf.

Fazit

Mit „Das glückliche Geheimnis“ gelingt Arno Geiger eine kraftvolle Erzählung über sein Parallelleben als Vagabund, Stadtstreicher, Lumpensammler, wie er sich selbst bezeichnete. Gleichzeitig sind seine Worte ein Weckruf, seine Umwelt bewusster wahrzunehmen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und Dinge wertzuschätzen - weil sie uns etwas zu erzählen haben. Man muss nur zuhören und vielleicht findet man dann auch sein ganz eigenes kleines Glück.

Das glückliche Geheimnis

Arno Geiger, Hanser

Das glückliche Geheimnis

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