Markus Orths gelingt mit „Mary & Claire“ ein emanzipatorischer Entwicklungsroman, der mit seiner bildgewaltigen Sprache überzeugt.
Die literarisch ambitionierte Mary Shelley, ihre Stiefschwester Claire und ihr späterer Mann Percy treffen am Genfer See in einer Villa mit dem Dichter und Dandy Lord Byron zusammen. Während draußen ein heftiges Gewitter tobt, probiert sich das Quartett opiumberauscht an Gruselgeschichten.
Diese literarische Anekdote über die Entstehung der ersten Textfassung von „Frankenstein“ ist äußert populär. Wie aber kam es dazu, dass der Klassiker in einem männerdominierten Zeitalter von einer Frau verfasst wurde? Markus Orths widmet sich in seinem neuen Roman den Leerstellen der literaturwissenschaftlichen Forschung, die er gekonnt mit Leben füllt. „Mary und Claire“ ist ein Buch über Bücher – woraus sie ihre Macht schöpfen, und wie sie entstehen.
Von großen Träumen und bitteren Konsequenzen
Die Protagonistin Mary Shelley, geborene Godwin, erlebt eine bedrückende Kindheit als Halbwaise. Sie wächst ohne ihre früh verstorbene Mutter auf und wird von der Stiefmutter auf ein Internat fernab des Elternhauses abgeschoben. Mary fühlt sich ihrer toten Mutter, der Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Mary Wollstonecraft, an deren Grab der Roman auch einsetzt, sehr verbunden. Dennoch gelingt es ihr erst nach und nach, sich von den vorherrschenden gesellschaftlichen Geschlechterkonventionen zu befreien und zu ihrer eigenen Stimme zu finden.
Behilflich ist ihr dabei das spannungsgeladene, aber enge Verhältnis zu ihrer Halbschwester Claire und zu ihrem späteren Ehemann Percy Shelley. Zwischen den Dreien entwickelt sich – obwohl Percy bereits verheiratet ist – eine intime Beziehung. Um ihre freie Liebe ausleben zu können, fliehen Claire, Percy und Mary vor dem restriktiven gesellschaftlichen Moral-Korsett des damaligen Englands nach Frankreich. Doch schon bald wird ihnen bewusst, dass auch die neugewonnene Freiheit ihre Schattenseiten hat.
Ein literarisches Vermächtnis
Leuchtend-helle Epiphanie und Dunkles, Schauerliches liegen in „Mary & Claire“ erstaunlich nah beieinander. Die drei Hauptfiguren des Romans sind getrieben von der Sehnsucht nach Anerkennung, Verlust und Leid, auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Der Drang, ihr Innerstes in einem Ringen um Worte nach außen zu kehren, ist ihnen dabei Trost und Verderben zugleich.
Markus Orths zeichnet mit wenigen Worten und dennoch poetischer Sprache gewaltige Bilder eines fragilen Frauenlebens voll Erfüllung und Schmerz, literarischer Lichtblicke und zwischenmenschlicher Tiefschläge. Denn eines Tages gesellt sich ein Vierter zu der vertrauten Runde hinzu: der oben erwähnte Lebemann Lord Byron, der eine inspirierende Bereicherung zu sein scheint, gleichzeitig aber die besondere Verbindung unter den Liebenden zu zerstören droht. Zwischen erträumtem Nachruhm und erfahrener Demütigung, Zelebrierung des Lebens und Verlust liegt oft nur eine halbe Seite. Und dennoch – oder gerade deswegen ist dieser Roman des Erfolgsautors Markus Orths so gelungen.
Fazit
„Mary & Claire“ wird seinem Stoff sprachlich und inhaltlich mehr als gerecht. Gekonnt füllt der Autor die bi(bli)ographischen Leerstellen seiner Figuren und erweckt sie in bildhafter Sprache zum Leben. Es ist ein runder Roman, der (erneut) Lust auf eine Lektüre von Mary Shelleys „Frankenstein“ macht.
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