Die Abtrünnigen

Die Abtrünnigen
Die Abtrünnigen
Wertung wird geladen
Monika Wenger
881001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2023

Gesellschaftliche Zwänge und unmögliche Liebesgeschichten.

Auf dem Platz unmittelbar vor der Moschee findet Hassanali eines Morgens einen fremden, gänzlich entkräfteten weissen Mann. Nach einigem Hin und Her, seine moralische Verpflichtung als Muslim wahrnehmend, gewährt er dem völlig Erschöpften seine Gastfreundschaft. Noch weiss Hassanali nicht, dass eben dieser Fremde ein grosses Drama in Gang setzen wird.

Der Traum vom frei sein

Sansibar im Jahr 1899: Hassanali ist ein eher ängstlicher, unsicherer Mann, immer darauf bedacht, alles richtig zu machen. So ist er erst einmal von der Situation heillos überfordert. Noch ist kein Ende in Sicht, den ihm stehen noch weitere Aufregungen bevor. Seine Schwester Rehana lässt sich mit dem Fremden, dem englischen Orientalisten Martin Pearce, ein. Entgegen sämtlicher Konventionen und Moralvorstellungen.

Sechzig Jahre später wird verliebt sich Amin in Jamila. Gerüchte besagen, dass die wenig ältere Jamila ein ebenso anstößiges Leben führe, wie einst ihre Grossmutter. Jedenfalls wird die Liebe der beiden auf eine harte Probe gestellt und zerbricht an den gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Für Amin ist es eine Tragödie, an der er beinahe zerbricht. Als guter Sohn gehorcht er jedoch seinen Eltern.

Sein Bruder Rachid hat die Zulassung zum Studium erhalten und ist bereits auf dem Sprung nach England und in die vermeintliche Freiheit. Obwohl er sich über die anstehenden Veränderungen freut, kämpft er mit seinem schlechten Gewissen. Ihm werden so viele Möglichkeiten offenstehen, wie noch keinem Mitglied in seiner Familie. Aber auch in der Fremde verfolgt ihn die unglückliche Liebe zwischen Amin und Jamila. Er versucht, mehr zu erfahren.

Politik, Kultur und Traditionen

Ein bewegender Roman, der die Familiengeschichte dreier Generationen aufgreift. Ruhig und unaufgeregt erzählt der Autor im ersten Teil von den sozialen und kulturellen Unterschieden während des britischen Protektorats in Ostafrika. Viele historische und politische Details prägen diesen Zeitabschnitt. „Sie können über Verantwortung reden, so viel Sie wollen, aber wenn Sie Wohlstand und Ordnung in Afrika haben wollen, brauchen Sie eine europäische Besiedlung. Dann können wir aus diesem Kontinent ein zweites Amerika machen.“

Sodann wechselt Gurnah die Zeitebene und mit ihr nuanciert den Schreibstil. Sechzig Jahre später, in den 1950er-Jahren, sind die Auswirkungen des Kolonialismus und der Rassentrennung nach wie vor spürbar. Noch immer spielen Traditionen und Moralvorstellungen für die nachfolgenden Generationen eine grosse Rolle. Die Regeln und die daraus entstehende Tragik bleibt für die Betroffenen einschneidend.

In einem weiteren Handlungsstrang lässt der Autor einen vorerst Unbekannten über die verbotenen Liebesgeschichten und die gesellschaftlichen Konventionen berichten. Seine Gedanken lassen Zweifel an der Richtigkeit des vorher Gelesenen aufkommen. Nun wird langsam erkennbar, dass nur wenig über das Erzählte den Fakten entspricht, aber vieles genau so hätte sein können. Raffiniert, eine Geschichte auf diese Art zu verschachteln. Genau damit ermöglicht Abdulrazak Gurnah einen spezifischen Blick auf Ostafrika und seine Geschichte. Wirklich eine feine und leise Lektüre mit viel Tiefsinn.      

Fazit

Vielschichtig angelegt und mit dem richtigen Gespür für Distanz erzählt Abdulrazak Gurnah die Geschichte einer ostafrikanischen Familie. Mit seiner Art, Familien- und Gesellschaftsthemen aufzugreifen und zu verarbeiten, schafft er augenblicklich Nähe und Anteilnahme. Ein bewegender und anregender Lesestoff.   

Die Abtrünnigen

Abdulrazak Gurnah, Penguin

Die Abtrünnigen

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Die Abtrünnigen«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik