Man muss nur irgendwie anfangen...
Während die Kinder ein Auslandsjahr verbringen und seine Frau Johanna in Lissabon weilt, will der 49-jährige Lars die Zeit bis Ende des Jahres noch nutzen, um endlich mit all den Aufgaben loszulegen, die er schon seit Ewigkeiten erledigen will. Aber ihm fehlt einfach der innere Antrieb. Nicht nur bei der Arbeit als Schriftsteller. Prokrastination nennt man dieses pathologische Aufschiebeverhalten. Doch Lars hat diesmal einen Plan. In fünf Tagen will er eine To-do-Liste Punkt für Punkt bis zum 31. Dezember abarbeiten. Jeden Tag abends mit dem guten Gefühl ins Bett gehen, wieder etwas geschafft zu haben. Aber erst einmal eine rauchen, noch kurz das Handy gecheckt - und mit einem Mal ist bereits Silvester. Doch keine Panik. Das kann man noch alles schaffen, auch wenn das Haus immer noch chaotisch ist. Und Lars Leben sowieso.
Junge Autorin
Nele Pollatschek gehört zu den interessantesten und meistbeachteten Autorinnen ihrer Generation. Sie hat Englische Literatur und Philosophie in Heidelberg, Cambridge und Oxford studiert und wurde darin 2018 promoviert. Für ihren Debütroman „Das Unglück anderer Leute“ (2016), in dem sie eine dysfunktionale Familie beschreibt, erhielt sie den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis (2017) und den Grimmelshausen-Förderpreis (2019). Es folgte das Sachbuch „Dear Oxbridge. Liebesbrief an England“ (2020), eine bissige und gleichzeitig witzige Abrechnung mit dem britischen Klassensystem. Die 35-jährige Pollatschek schreibt für die Süddeutsche und erhielt 2022 den Deutschen Reporterpreis.
Wenn Chaos zum Prinzip wird
Autorin Nele Pollatschek blickt in ihrem aktuellen Roman auf die lästigen Alltäglichkeiten des Lebens. Der 49-jährige Ich-Erzähler Lars kämpft mit sich - und mit seiner To-Do-Liste. Nur das Anfangen fällt schwer. So verschläft er am letzten Tag des Jahres, dabei gibt es noch so viel zu tun: Das Bett von Tochter Lina aufbauen (samt Schraube 109049, Hoshi, Knülpe, Plötze, Pleumel, Flonze, Wörle, Nietze und Co.), das Haus putzen (inklusive der klebrigen Ledercouch) und den Abwasch erledigen (Da sich das Geschirr immer noch der Selbstreinigung widersetzt), die Steuererklärung erledigen (So etwas kann ja auch sehr meditativ sein), Geschenke einpacken (Gibt es da nicht ein Youtube-Video zu?), seinen Vater endlich einmal wieder anrufen (Auch wenn dieser immer nur fragt: „Und selbst?“), den Nudelsalat für den Silvester-Abend vorbereiten (unbedingt vegan!), das Feuerwerk aus dem Keller holen (Wofür hat man denn schließlich sieben Staffeln McGyver geschaut!), sich um die Regenrinne kümmern (Wozu soll ich die Leiter umstellen, das Dach ist doch flach!) und mit dem Rauchen aufhören (Die letzte bekommt Johanna). Ach ja, und sein Buch fertig schreiben, mit dem er eigentlich noch nicht wirklich begonnen hat. Allen Widerständen zum Trotz muss Lars es schaffen, weil er beweisen will, dass er es kann: sich, seiner Familie, der ganzen Welt. Es gibt nur ein Problem: Lars selber. Denn sobald er mit einer Sache beginnt, ist er mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. „Ich würde mich ja gerne konzentrieren, ich vergesse es nur immer. Eigentlich bräuchte ich jemanden, der den ganzen Tag mit einer Klangschale hinter einem herläuft und einen immer, wenn man das Konzentrieren vergisst, lautstark daran erinnert“, denkt sich der Familienvater. Aber eines kann Lars dann doch meisterhaft: sich ständig Rechtfertigungen für seine Untätigkeit ausdenken.
Irgendwie steckt in jedem ein Lars
Es ist ein großes Lesevergnügen, den Ich-Erzähler beim Versuch, sein Leben zu ordnen, zu beobachten. Denn wenn Lars über seine Familie und die Welt philosophiert und sich wahrlich bemüht, gegen das ständige Aufschieben anzugehen, dann erkennt man sich als Leser doch auch ein bisschen wieder und kann den Familienvater verstehen. Lars verliert sich immer wieder in Anekdoten über sich, sein Schreiben, die Familie und das Leben. Dies macht Autorin Nele Pollatschek derart brillant und mit einem feinen Blick für die „Gemeinheiten“ des Lebens, dass man wirklich ständig lachen muss. Aber gleichzeitig macht sich die Autorin über ihren Protagonisten niemals lustig. Ein Roman, der bestens unterhält, weil er mal schreiend komisch ist, mal leise Töne anspielt und auch eine gewisse Tragik beinhaltet. Lars, der unbeholfene Möchtegern-Schriftsteller, der ständig in Träumen lebt und irgendwie nie richtig erwachsen wird, ist einer der wundervollsten Ich-Erzähler in den deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Man sollte aber als Leser wissen, dass der Roman ein einziger langer Monolog ist und wir wirklich jeden Gedanken - sei er noch so komplex und irrsinnig - von Lars erfahren, dass das Lesen vereinzelt auch schwierig sein kann. Aber genau das ist halt Lars, der herzensgute, aber nervende und antriebsschwache Familienvater, der sich auch über den ständigen Nieselregen aufregt, weil dieser einfach nicht in seine perfekte (Traum-)Welt passt.
Fazit
Ein herrlicher Roman über die kleinen Probleme der Welt, die auch einmal ganz groß werden können. Ein unglaublich witziges, verrücktes, irgendwie auch philosophisches kleines Buch, das ganz viel Herzenswärme versprüht. Wahrlich ein kleiner Schatz.
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