Lichtspiel

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Thomas Gisbertz
951001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2023

Kehlmann ist eine Klasse für sich!

Einer der wichtigsten Filmregisseure der Weimarer Republik, vielleicht sogar der Größte seiner Epoche, eine ungewöhnliche Emigrationsgeschichte, ein Leben zwischen Realität und Fiktion, die Macht des NS-Regimes und ein verschollener Film: Das sind die zentralen Elemente des neuen Romans von Daniel Kehlmann, der mit „Die Vermessung der Welt“ (2005) eines der erfolgreichsten deutschen Werke der Nachkriegszeit schrieb. „Lichtspiel“ ist ein Roman, über den man schon jetzt mehr spricht als über seinen Protagonisten, den österreichischen Filmregisseur G. W. Pabst. Ein Roman, der die Extraklasse Kehlmanns erneut unter Beweis stellt und der deutlich macht, dass dieser längst ein Autor von Weltformat ist.

Die Erzählung beginnt, womit sie auch endet: mit Franz Wilzek, einem alten Mitarbeiter des bekannten Regisseurs, der mittlerweile unter starker Demenz leidend im Sanatorium Abendruh lebt. Aber er bekommt unverhofft einen letzten großen Auftritt. In einer bekannten Fernsehsendung soll er über seine Erfahrungen mit dem großen Pabst sprechen. Doch es kommt zum Eklat, als Wilzek behauptet, der in den letzten Kriegsmonaten entstandene Kriminalfilm „Der Fall Molander“ sei nie gedreht worden. Der Roman wird im Folgenden nicht nur die Frage klären, wie er zu dieser Aussage kommt, sondern vor allem mit G. W. Pabst einen Mann darstellen, der zwischen Ruhm und Niederlage, Widerstand und Akzeptanz schwankt. Ein Mensch, der eigentlich nur für seine Passion lebt („Er musste Filme drehen. Nichts anderes wollte er, nichts war wichtiger.“), ein Pionier des Films, der aber zunehmend den Blick für die Realität verliert.

Real und doch Fiktion

Der deutsch-österreichische Autor Daniel Kehlmann hat seinem Roman ein Gerüst aus Lebensdaten und Fakten geben, aber die Umsetzung ist Fiktion. Damit handelt es sich bei „Lichtspiel“ nicht um eine Biografie des bekannten Filmregisseurs G. W. Pabst. Der Autor bewegt sich stattdessen auf dem Feld des Möglichen und des Spekulativen. Aber wie Kehlmann die Ergebnisse seiner intensiven Recherche zum Leben erweckt und wie er aus Namen Menschen macht, zeigt die ganze Klasse des aktuell vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellers.

Der besondere Clou des Romans ist der wiederholte Perspektivwechsel. Wenn die Geschehnisse aus den Blickwinkeln der einzelnen Figuren dargestellt werden, setzt sich nach und nach ein Mosaik der damaligen Zeit zusammen und hilft dem Leser, selbst Antworten auf Fragen zu finden, die der Roman stellt. Kehlmann inszeniert „Lichtspiel“ wie einen Film, szenenhaft. Dabei ist er aber weit davon entfernt, Stellung zu beziehen oder selbst Antworten zu geben. Der Autor fragt nicht danach, was wirklich geschehen ist, sondern wie - aus der Perspektive eines Lesers - die Wirklichkeit aussehen könnte. Dies macht den besonderen Reiz seiner Werke aus. Kehlmann ist ein Weltenzauberer.

Meister des Grotesken

Der Roman ist voll von ausdrucksstarken Szenen, die ein unterschiedliches Licht auf Pabst und sein Leben werfen. Die vielleicht beste, aber auf jeden Fall erzähltechnisch ausgefeilteste, ist das Gespräch zwischen Pabst und dem Propagandaminister, das durch seine Übersteigerung und Verzerrung komisch und unsinnig wirkt, aber gleichzeitig leider so lebensecht erscheint. Das Groteske ist eine Stärke des Romans. Immer wieder muss man beim Lesen laut lachen. Zu den besonders unterhaltsamen Episoden gehört auch der Lesekreis, an dem Trude Pabst, die Frau des Regisseurs, als nunmehr angesehen Dame teilnehmen muss. Man fühlt sich unweigerlich an den Humor Loriots erinnert, wenn in trauter Runde bei einem Kaffeekränzchen nahezu ausschließlich die Kitschromane eines Nazi-Autors gelesen werden, obwohl diese eigentlich kaum eine mag. Aber wen kann man denn noch lesen? Nicht vergessen werden darf die Begegnung zwischen G. W. Papst und Leni Riefenstahl bei den Dreharbeiten zu „Tiefland“, bei denen Sinti und Roma als Statisten zwangsrekrutiert wurden. Bei der Inszenierung der Lieblingsoper des Führers kommt es zu wundervollen, witzigen Dialogen zwischen der von sich und ihren Fähigkeiten grenzenlos überzeugten Regisseurin, Produzentin, Drehbuchautorin und Darstellerin Riefenstahl und den als Berater am Set tätigen Pabst.

Täter, Mitläufer, Ignorant?

Kehlmann stellt seinen Protagonisten als einen unpolitischen, teilweise naiven Mann dar, der sich gegen die Anbiederungen und letztendlich Erpressungen des NS-Regimes in Form des Propagandaministers zur Wehr setzen will, aber nicht kann. Weil er schwach ist, weil er ängstlich ist, aber zunehmend auch, weil er die unbegrenzten (finanziellen) Möglichkeiten erkennt, die er als Regisseur in Deutschland zur damaligen Zeit hat. Anders als in Amerika, wo er scheiterte, weil er nichts zu sagen hatte, kann Pabst nun auch beim Drehbuch und der Auswahl an Schauspielern frei walten.

Hier, auf seinem Gebiet des Films, ist er ein Vorreiter, in seinem Leben ein Mitläufer, auch weil er unsicher ist: „Wenn er inszeniert hat, wusste er immer, was die Leute zu tun hatten. Aber er selber wusste nie wirklich, was er tun sollte.“ Dies macht eine Wertung der Figur so komplex. Pabst ist ein Getriebener, der sein selbst erklärtes Meisterwerk „Der Fall Molander“ - alle Widerstände des Krieges ignorierend und auch nicht davor zurückschreckend, KZ-Häftlinge als Statisten einzusetzen - fertigstellen muss und daran letztendlich zu Grunde geht. Kehlmann inszeniert dies so meisterhaft, dass einem der Atem stockt.

Die Konturen des „Roten Pabstes“, wie man den Regisseur noch vor dem Krieg nannte, verschwimmen zunehmend. Aber war der Regisseur nun wirklich ein Nazi? Eine tragische Figur? Oder einfach ein Mann ohne Haltung? Wer der Nachgeborenen mag hier ein Urteil sprechen? Wie schwierig eine angemessene Antwort ist, schildert eine Figur gegen Ende des Romans: „Was weiß ich. Die Leute waren so manches vor dem Krieg, und dann waren sie was ganz anderes. Ich sage ja, es ist alles vermischt und durcheinander.“

Fazit

Daniel Kehlmann gelingt erneut ein großartiges Werk. Zweifellos ist „Lichtspiel“ der Roman des Jahres. Ein virtuoses Spiel aus Realität und Fiktion, aus Fakten und Spekulation. Ein Buch über Täter und Mitläufer. Kehlmann ist ein Meister des Erzählens. Der Roman ist aufwühlend, stimmt nachdenklich, ist stellenweise unbeschreiblich komisch, aber auch unendlich traurig - und er ist leider immer noch hochaktuell.

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