Detailansicht einer Beziehung.
Bereits 2021 erschien der Debütroman von Lydia Sandgren unter dem Titel „Gesammelte Werke“ in Deutschland. Die studierte Psychologin und Literaturwissenschaftlerin schrieb ganze 10 Jahre an ihrem Werk, das mittlerweile preisgekrönt ist.
Martin steckt in der Krise
Martin Berg hat beruflich und privat zu kämpfen. Sein Göteborger Verlag steht längst nicht mehr so gut da, wie noch vor ein paar Jahren und familiär stimmt seit 10 Jahren sowieso eigentlich nichts mehr. Damals verließ seine Frau Cecilia ihn und die beiden Kinder ohne ein Wort und ohne sich seitdem auch nur einmal gemeldet zu haben. Jetzt ist Elis gerade 18 geworden und Rakel studiert an der Universität und übersetzt Bücher für den väterlichen Verlag. Zeit für Martin, sich an die Zeit seiner eigenen Kindheit und die Zeit mit Cecilia zu erinnern. Zeitgleich übersetzt Rakel ein Buch und glaubt in einer Figur ihre Mutter zu erkennen. Zusammen mit Elis macht sie sich auf nach Berlin um der Spur zu folgen.
Die Zeit alleine, die mit Cecilia und die mit den Kindern
Auf fast 900 Seiten beschreibt Sandgren Martins Lebensgeschichte. Die Kindheit und Jugend mit seinem Freund Gustav Becker, die Zeit als Cecilia das Duo zu einem Trio machte und die Zeit nach Cecilias Verschwinden, in der Martin mit den Kindern alleine ist. Und dann kommt die Gegenwart mit Rakels Suche nach ihrer Mutter. Die ganze Geschichte ist dabei durchdrungen von unterschiedlichen Formen der Liebe. Der Liebe der Menschen zueinander, die divers und auch zerstörerisch sein kann und die Liebe zur Literatur und Kunst. Gleichzeitig ist das Buch in einem Stil geschrieben, der die Psychologin neben der Autorin deutlich macht. Es wundert daher nicht, dass Sandgren zehn Jahre gebraucht hat um das Buch zu schreiben. Das Geschehen wird durch die Figuren bestimmt, deren Aktionen und Emotionen im Mittelpunkt stehen. Dabei gibt Sandgen ihren Charakteren so viel Tiefe mit, die manchmal schon regelrecht erschrecken kann. Punktgenau legt sie dabei den Finger in Wunden, die zu Cecilias Verzweiflung und zu Martins Leere geführt haben. Manchmal ufern diese Tiefblicke fast schon aus und ergehen sich in Details, die gerade im Mittelteil des Geschehens ein wenig den Schwung aus der Geschichte nehmen.
Martin – Gustav – Cecilia
Obwohl Lydia Sandgren haarscharf an zu klischeehaft dargestellten Protagonisten vorbei schrammt, schafft sie es um eine plakative Darstellung herumzukommen. Martin gelingt der Aufstieg in die Welt der Akademiker, nicht zuletzt wegen Gustav, der auf das „von“ vor seinem Nachnamen großzügig verzichtet und Maler wird. Ganz dem Klischee entsprechend wird Gustav berühmt und endet natürlich als Alkoholiker. Das anfängliche Duo wird durch Cecilia ergänzt, die eine Schönheit ist und fünf Sprachen spricht. Das alles hätte, wie gesagt, zu einer ausgesprochen flachen und vor Klischees strotzenden Geschichte führen können, doch Sandgren gibt ihren Figuren psychische Tiefen mit, die bei Cecilia in einer ausgesprochen strikten Entscheidung münden.
„Und eines muss man ihr lassen: Sie hatte kurzen Prozess gemacht. Ihr Verschwinden hatte eine Wunde in der Familie hinterlassen, aber es war wenigstens eine saubere Wunde, ein präziser chirurgischer Schnitt, der besser heilen konnte als ein halbherziger Messerhieb“.
Im Laufe des Geschehens wird immer offensichtlicher, was zu diesem Schnitt geführt hat. Auch dieses „warum“ ist eigentlich ein Klischee, doch Sandgren beschreibt die Gründe realistisch und lebensnah und schafft damit auch hier die Kurve weg vom Plakativen hin zum Realistischen zu bekommen.
„Ihre Geburt war eine Grenzlinie, die das Leben ihrer Eltern in ein Davor und ein Danach teilte. Davor war die Welt frei, offen und uneingeschränkt gewesen, sie waren nur lose ans Erwachsenenleben geknüpft, alles war möglich. Und danach … danach kamen die Verpflichtungen“.
Der Roman endet schließlich in einem beeindruckend gelungenen Schluss, in dem der psychologische Moment abermals eine Rolle spielt.
Es hätten nicht unbedingt fast 900 Seiten sein müssen
Die Familiengeschichte ist von Anfang an packend und wird von der Frage nach den Gründen für Cecilias Verschwinden bestimmt – erst im Hintergrund und dann immer mehr vordergründig. Rakels Suche bringt ein zusätzliches Spannungselement in das Geschehen. Immer wieder eingeschobene Interviewausschnitte sind hingegen eher kontraproduktiv. Auf diese hätte die Autorin durchaus verzichten können, genauso, wie auf manchmal sehr detailversessene und langatmige Passagen, die das Geschehen nicht vorangetrieben haben. Gerade der Mittelteil hätte manche Raffungen durchaus vertragen können. Es wären dann zwar deutlich weniger Seiten herausgekommen, doch das hätte der Geschichte in ihrem Kern und ihrer Intensität nicht geschadet.
Fazit
„Das Bild meiner Mutter“ ist eine lange Hommage an die Liebe. Lydia Sandgren zeigt die unterschiedlichen Arten der Liebe mit ihren Fallstricken und Abgründen. Dabei gibt sie ihren eigentlich relativ pauschalen Figuren so viel Tiefe mit, dass sie die Geschichte tragen können und die fast 900 Seiten nur partiell etwas an Intensität verlieren.
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