Beflügeln, nicht belohnen.
Die Diagnose ist ein Schock. Martins Lebenszeit reduziert sich auf ungefähr zwölf Wochen. Dies kann unmöglich sein. Eine zweite Meinung muss her. Die bestätigt jedoch nur die unumstößliche Tatsache, dass Martin nicht mehr lange zu leben hat.
Bleibende Erinnerungen schaffen
Martin ist sechsundsiebzig Jahre alt, als er bei einem Arztbesuch seine Diagnose erhält. Seine Gedanken gelten seiner jungen Frau Ulla und seinem sechsjährigen Sohn David, die sein Lebensinhalt sind. Täglich kümmert sich Martin um David. Er bringt ihn in den Kindergarten und holt ihn auch wieder ab, während Ulla in der Galerie arbeitet. Das Leben scheint weiterzugehen, während Martin sich an seine Kindheit und an seinen Vater erinnert. Was wird Ulla und David von ihm in Erinnerung bleiben? Wie soll er die verbleibende Zeit gestalten, damit er nicht vergessen wird?
Während Ulla nach dem ersten Schock scheinbar wieder mühelos in den Alltag zurückfindet, möchte Martin noch intensiver Zeit mit seinem Sohn verbringen. Er möchte Besonderes mit ihm unternehmen und dabei Erinnerungen generieren, die David später begleiten würden. Doch wie kann er dies bei einem sechsjährigen Kind tun, ohne dass es eine seelische Belastung wird? Dass er ihm zu viel zumutet?
„Die Gewissheit, geliebt zu sein, sollte ihn bei den Anstrengungen des Lebens beflügeln, nicht Belohnung für sie sein.“
Einige Zeit später beschwert sich Ulla bei Martin, dass er ihr den Sohn entzieht und sie gar nicht mehr Mutter sein lässt. Schließlich würde sie später für sein Wohlergehen verantwortlich sein, daher sei eine Entfremdung kontraproduktiv. Für Martin wird es eine beschwerliche Zeit, in der ihn zwischendurch Zweifel an seinem Vorgehen beschleichen. Wird er einen Weg finden, der für alle begehbar ist?
Ein schwerer letzter Weg
Was geschieht in einem Menschen, der genau weiß, dass seine Zeit abläuft? Genau diese letzte Wegstrecke beschreibt Bernhard Schlink so einzigartig und einfühlsam. Er sinniert über Glauben, Liebe und Hoffnung. Alles beginnt mit der Akzeptanz des Unabwendbaren. Dann beginnen für Martin die Vorbereitungen für die letzte Wegstrecke.
„Martin wollte David geben, was er selbst vermisst und wonach er sich gesehnt hatte. David sollte lieben und sich lieben lassen, ohne sich abzustrampeln und Dornenhecken zu überwinden und bei allem Abstrampeln unsicher zu bleiben, ob er gut genug war.“
Schließlich setzt die Rückbesinnung auf das eigene Leben ein. Dazu gehört auch die Analyse der Paarbeziehung. Schlinks Protagonisten wird ein weiteres Mal der große Altersunterschied bewusst. Daraus folgert er, nicht ohne eine gewisse Trauer, dass seine Ehefrau weiterleben und -lieben wird. Bernhard Schlink hat diese unterschiedlichen Aspekte einfühlsam und bedacht formuliert und daraus eine wunderbar berührende Erzählung geschaffen.
Fazit
Eine ebenso ernste wie auch bewegende Schilderung über die letzte Wegstrecke eines gelebten Lebens.
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