Die Buchbinderin von Oxford

  • Heyne
  • Erschienen: November 2023
  • 1
Die Buchbinderin von Oxford
Die Buchbinderin von Oxford
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Monika Wenger
731001

Belletristik-Couch Rezension vonDez 2023

Eine Würdigung des Buchhandwerks und der Bücher – und der Sehnsucht nach Wissen.

Seit dem frühen Tod der Mutter leben Peggy und ihre Zwillingsschwester Maude allein auf dem Hausboot. Sie arbeiten beide in der berühmten Oxford University Press im Viertel Jericho. Täglich falzen sie die Buchseiten, die so viel Wissen und so viele Geschichten enthalten. Liebend gerne würde Peggy das College besuchen, um die Bücher zu studieren und sich unendlich viel Wissen anzueignen. Aber für ein Arbeiterkind aus Jericho sind dies hochfliegende Träume.

Hochfliegende Träume und nackte Tatsachen

Nach dem Tod der Mutter fühlt Peggy sich verantwortlich für ihre Schwester, die unter einer Entwicklungsstörung leidet. Beide arbeiten in der Buchbinderei der Oxford University Press. Dort kann Peggy ein Auge auf ihre Schwester haben und weiss sie gleichzeitig beschäftigt. Aber Peggy möchte die Bücher nicht nur falzen, sie möchte diese auch richtig lesen, sie studieren. Sie träumt davon, auf das benachbarte Somerville College gehen zu dürfen. Dazu bräuchte sie aber ein Vollzeitstipendium und jemanden, der auf Maude aufpasst.
Vorerst drängen aktuelle Ereignisse in den Vordergrund und Peggys Träume verschwinden in den Hintergrund. In Oxford treffen belgische Flüchtlinge ein. Verwundete aus dem Überfall der Deutschen auf das neutrale Belgien. England als Garantiemacht Belgiens nimmt sich ihrer an. Dann werden englische Männer an die Front eingezogen. Die Daheimgebliebenen helfen und pflegen die Verletzten. Durch die pflegerischen Tätigkeiten lernt Peggy andere Menschen und Denkweisen kennen – und begegnet der Liebe. Dabei vergisst sie jedoch nie ihren Traum von Bildung. 

Die faszinierende Herstellung eines Buches

Wie in ihrem ersten Buch „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“ spielt auch diese Geschichte in Oxford. Jetzt stehen die Arbeitsschritte beim Buchbinden und beim Restaurieren im Vordergrund. Pip Williams lässt ihre Protagonisten mit eigenen Worten erklären, wie die Lagen gefalzt, gedreht und kollationiert werden müssen, damit schlussendlich ein Buch gebunden werden kann. Diese Erklärungen und die Arbeitsschritte nehmen sehr viel Raum ein. Sie sind äusserst interessant und aufschlussreich. Dabei geht beinahe die Geschichte von Peggy und ihrem Umfeld verloren.

Zusätzlich lässt das Weltgeschehen den Alltag der Figuren durcheinanderwirbeln. Der Roman beginnt im Jahr 1914 – der Erste Weltkrieg ist Tatsache. Die Folgen hinterlassen ihre Spuren auch bei den Menschen in Oxford. Das Geschehen an der französischen Front wird durch die pointierten Briefe von Tilda, der Freundin von Peggys verstorbener Mutter, beschrieben. Dadurch erhält man eine wohldosierte Ahnung vom Geschehen an der Front. Und eine besondere Aufwertung erhält die Geschichte durch Maude. Ihre Äußerungen treffen jeweils den Nagel auf den Kopf. Sie wächst einem ans Herz und lässt die ausschweifenden und zähflüssigen Passagen vergessen.

„Maude fiel es schwer, eigene Sätze zu formulieren, aber sie suchte sehr genau aus, was sie wiederholte. Ich glaube, sie begriff, dass das meiste, was die Leute sagten, bedeutungslos war.


Dagegen bleibt Peggy oft unnahbar. Ihre Handlungen sind nicht immer nachvollziehbar. Dafür gewährt der Roman einen tollen Einblick in die Arbeit des Buchbindens und den Arbeiten in der Oxford University Press. Ergänzt werden die Beschreibungen mit interessanten und kenntnisreichen Details. Genauso verhält es sich mit den Schilderungen über das gesellschaftliche Leben mit den eminent wichtigen Standesunterschieden.

„Die meisten waren ehemalige Studenten oder Universitätsabsolventen. Sie konnten eine College-Bibliothek betreten, ohne Fragen beantworten zu müssen, und allein das hatte sie zu Offiziersanwärtern gemacht. So als würde einen die Odysseus-Lektüre zum militärischen Anführer qualifizieren.“

Fazit

In Bezug auf die handwerklichen Fertigkeiten des Buchbindens und die Darstellung des gesellschaftlichen Lebens in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts bietet der Roman eine wahre Fülle. Die Themenflut verhindert aber unglücklicherweise, dass die einzelnen Figuren so zur Geltung kommen, wie es ihnen zustehen würde.

Die Buchbinderin von Oxford

Pip Williams, Heyne

Die Buchbinderin von Oxford

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