Besichtigung eines Unglücks

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  • Erschienen: Dezember 2023
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Besichtigung eines Unglücks
Besichtigung eines Unglücks
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Carola Krauße-Reim
781001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2024

Jegliche Entscheidung hat Konsequenzen.

Am 22.12.1939 ereignete sich, in einer bitterkalten Nacht, kurz vor dem Bahnhof von Genthin in Sachsen-Anhalt das bisher schwerste Zugunglück in Deutschland, als der D 180 auf den vollkommen überfüllten D 10 auffuhr. Mindestens 186 Tote und 106 Verletzte forderte die Katastrophe – die genauen Zahlen sind bis heute nicht geklärt. Die Schuldfrage wurde zwar erörtert, doch lässt das Ergebnis auch einige Zweifel zu. Klar ist, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände eine große Rolle gespielt zu haben scheint.

Ein Autor aus Genthin

Gert Loschütz erhielt für sein Werk zahlreiche Nominierungen und Auszeichnungen. Er schreibt Lyrik, Theaterstücke, Hör- und Fernsehspiele und eben auch Romane. Bereits 2021 erschien die Originalausgabe von „Besichtigung eines Unglücks“, jetzt folgte die Taschenbuchausgabe. Der heute in Berlin lebende Loschütz nimmt sich eines Themas an, das auch eine private Nuance trägt, denn er wurde 1946 in Genthin geboren.

Wie hängt alles zusammen?

Tomas Vandersee heißt das Alter Ego, welches Loschütz im Roman agieren lässt. Durch einen Hinweis, viele Jahre später, erfährt der in Berlin lebende Vandersee vom Bahnunglück 1939 in Genthin. „Nicht meine Zeit ...“ denkt sich Vandersee und dennoch zieht es ihn immer tiefer in das Thema hinein, nicht zuletzt, weil es die Zeit ist, in der seine Mutter Lisa in Genthin lebte. Er recherchiert, findet einige Ungereimtheiten und vor allem viel Tragik.

Besonders zwei Menschen haben es ihm angetan: Giuseppe Buonomo aus Neapel, der unter den Toten ist und eine Buonomo, Carla wohnhaft in Düsseldorf, die verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Wie standen die beiden zueinander und was wurde aus Carla? Stück für Stück legt Vandersee das ganze Drama um das Unglück, die Geschichte von Carla und Giuseppe und die Verstrickung seiner Mutter in das alles frei. Und immer wieder muss er sich fragen „Was wäre, wenn?“, denn lediglich innerhalb von 4 Sekunden entschied sich das Schicksal so vieler Menschen - damals in Genthin.

Bericht, Liebesgeschichte und familiäre Verstrickungen

Loschütz verwebt gekonnt detailgenau recherchierte Fakten und Fiktion in gleich mehreren Genres – Familienchronik, Liebesgeschichte und Unglücksbericht, indem er seinen Roman in 5 Kapitel einteilt. Neben dem Unglück wird auch die Beziehung von Carla zu Giuseppe und Vandersees eigener Lebensweg mit Mutter Lisa beleuchtet. Das ist dann auch der schwächste Teil der ansonsten unglaublich spannenden Geschichte, die von Anfang an auch sprachlich fordert. Nicht nur die detaillierte Beschreibung des Unglücks wird in einem Tonfall der Berichterstattung gehalten, auch alle anderen Aspekte der Geschichte, obwohl Vandersee aus seiner Sicht erzählt und auch sehr Persönliches beschreibt. Loschütz treibt den Begriff „Betrachtung“ damit auf die Spitze, lässt keine Nähe oder emotionale Verstrickung zu. Immer wieder wird die Leserschaft vor die Frage gestellt, mit welcher Handlung das Zugunglück oder ein anderes einschneidendes Erlebnis im Leben der Protagonisten eigentlich begann und immer wieder wird auf die alles entscheidenden 4 Sekunden hingewiesen. Einprägsamer kann man es nicht deutlich machen, dass jegliche Entscheidung eine Konsequenz hat und auch die kleinste Zeitspanne das Leben vollkommen ändern kann.

Viele Namen und ein paar wichtige Figuren

In der „Besichtigung“ des Unfallvorganges und damit der Akten, tauchen eine Unmenge an Namen mit damit verbundenen Funktionen auf. Das ist sehr verwirrend und gleichzeitig enorm wichtig, denn jeder trägt zur Katastrophe bei oder muss sie aufarbeiten. Am besten, man fertigt eine Liste an, damit es nicht allzu verwirrend wird. Die eigentlichen Protagonisten sind aber Vandersee, Carla und Mutter Lisa. Obwohl es immer eine ausgeprägte emotionale Ebene bei diesen Figuren gibt, wird stets eine Distanz zu ihnen gehalten, die wenig Raum für Empathie oder Antipathie lässt. Lediglich ganz zum Schluss wird diese Grenze aufgehoben, zumindest was Carla betrifft. Diese Distanz ist nicht immer leicht auszuhalten, doch trägt auch sie zur „Besichtigung“ bei. Loschütz lässt eine persönlich emotionale Verstrickung der Leserschaft in die Geschichte einfach nicht zu.

Fazit

Ein Roman, der lange nachhallt. Lässt man sich auf den distanzierten Erzählton ein, ist „Die Besichtigung eines Unglücks“ unglaublich spannend, nicht zuletzt, weil die Geschichte weit über das eigentliche Zugunglück hinausgeht. Gert Loschütz beweist wieder einmal seine große Erzählkunst, indem er Fakten und Fiktion mit dazugehörigem Zeitgeschehen so geschickt verbindet, dass man sich unweigerlich klar machen muss, dass jedes Handeln immer eine Konsequenz nach sich zieht.

Besichtigung eines Unglücks

Gert Loschütz, btb

Besichtigung eines Unglücks

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