Ein Lobgesang auf den Metal-Gott.
Florida in den späten 80ern: Christopher Chanticleer – genannt Kip – Norvald verschlägt es aus seinem zerrütteten Elternhaus zu seiner Oma nach Venice Beach. Sie kümmert sich liebevoll um den Teenager, doch das neue Umfeld trägt nicht dazu bei, Kips depressive und dissoziative Episoden zu lindern. In Venice Beach ist praktisch nichts los, es ist der Sammelpfuhl für Senioren, die sich dorthin zurückziehen, um in Ruhe zu sterben. Einen Hoffnungsschimmer bietet die Freundschaft mit Leslie Z, der als individualistischer, flamboyant gekleideter, bisexueller und afroamerikanischer Sohn jüdischer Adoptiveltern hier selbst wahrlich keinen leichten Stand hat. Leslie’s Ventil jedoch ist eine ganz besondere Musik, die für ihn quasi seine eigene Religion darstellt und an die er den „jungfräulichen“ Kip heranführt: Heavy Metal.
Kip ist wie berauscht, hineingeworfen in eine neue Welt, findet sich mit Leslie Z auf einem Konzert und Festival nach dem nächsten wieder. Dort lernt er die unnahbare Kira Carson kennen und lieben, die sich ebenfalls vor ihren inneren Dämonen in die Musik zu fliehen versucht. Die Kraft, welche die drei einander verleihen, beflügelt sie zum Aufbruch: Goodbye Venice Beach, Hallo L.A.!
Doch dort, mitten in den 90er Jahren und in den Wirren der Glam-Szene, müssen sie feststellen, dass der Metal, der das Feuer in ihren verlorenen Seelen am Lodern gehalten hat, vielleicht doch nicht genug war, um sie dauerhaft aneinander zu kitten. Der Weg ins Erwachsenenleben ist kein geradliniger; manch alte Wunde geht so tief, dass es fast unmöglich scheint, der Vergangenheit noch einen Sinn abzugewinnen, ohne sich voneinander zu entfremden. Und dann, ganz plötzlich, wird wieder alles anders: Kira verschwindet! Die Hinweise lassen eine abstruse Vermutung die nächste jagen. Können sich Kip und Lesie zusammenraufen, um ins Zentrum der Finsternis vorzudringen ...?
„Im Leben läuft nichts so, wie es sollte. In der Rockmusik läuft alles so, wie es sollte. Deshalb ist sie faschistoid.“ – Lester Bangs
John Wray (bürgerlicher Name: John Henderson) wuchs als Kind österreichisch-amerikanischer Eltern in Buffalo auf und weist, ähnlich wie die Figuren in diesem Buch, keinen „klassischen“ Lebenslauf vor. So brach er ein Biologiestudium am Oberlin College ab, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und spielte zeitweise in einer Rockband, bevor weitere Studienjahre an der Columbia University sowie der Universität Wien folgten. Allerdings zieht sich das Schreiben wie ein roter Faden durch seinen Werdegang. Nach zahlreichen, teilweise mit Preisen ausgezeichneten Kurzgeschichten und Büchern wie Gotteskind oder Madrigal legt der heute in Brooklyn lebende und arbeitende Autor nunmehr also seinen aktuellen Roman „Unter Wölfen“ vor, der in deutscher Fassung im Rowohlt Verlag erschienen ist.Ob Erfahrungen aus seinen „wilden Jahren“ in die Beschreibungen der Musik darin eingeflossen sind, lässt sich nur mutmaßen.
„Die Musik schlug so schnell zu, dass er zunächst gar nichts blickte, der Sound war tyrannisch, dominant. Der Körper reagierte rascher als der Kopf, wechselte unwillkürlich in den Fight-or-Flight-Modus. Ihm wurde dieselbe reinigende Angst zuteil, dieselbe Katharsis, dieselbe Offenbarung wie durch einen Slasher-Film um Mitternacht: die Einsicht nämlich, dass nichts, aber auch rein gar nichts gut werden würde. Jetzt nicht. Später nicht. Nie. Und das ergab für ihn durchaus einen Sinn“
Und gerade diese Beschreibungen haben es in sich! Das pulsierende Herz, um das diese Story kreist, ist Metal. „Unter Wölfen“ taucht mitten hinein in das abseitige und ekstatische Wesen wummernder Bässe, unnachgiebiger Beats, durch Mark und Bein gehender Gitarrenriffs und urtümlicher Gesänge. Selten wurde der transzendente Kern einer Musik derart lebhaft literarisch eingefangen (Bernhard Robben gibt dies in seiner deutschen Übersetzung auch virtuos wieder).
Doch bei aller Brachialität gelingt Wray gleichzeitig eine überraschend einfühlsame und glaubhafte Coming-of-Age-Geschichte, die sich in ihre ungewöhnlichen Hauptfiguren derart tief hineindenkt und -fühlt, dass man sich ihnen – trotz ihrer charmanten Eigenheiten und vielleicht auch gerade wegen ihrer Abgründe – stets unsagbar nahe wähnt.
„Metal ist wie ein Flammenwerfer, der allen Bullshit verbrennt“
Ein wenig flacht die Spannungskurve im zweiten Drittel des Buches ab, da die Szenen in L.A. die Rasanz und Direktheit der vorhergehenden Kapitel nicht ganz aufrecht halten können. Dennoch wird die Charakterzeichnung stimmig vorangetrieben, was sich in einem unvorhergesehenen und völlig wilden Finale auszahlt, nach welchem sich Kip, Kira und Leslie abermals neu erfinden und ihre Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu ausloten dürfen. Vielleicht wird – wie so oft im Leben – nichts mehr sein, wie es war. Aber gute alte Zeiten kann man durchaus ab und an wieder aufleben lassen, bevor es weiter vorangehen muss. Am Ende des Romans wünscht man sich, man hätte mit diesen Protagonisten noch ein Weilchen länger gemeinsam headbangen dürfen.
Fazit
Unter Wölfen ist ein kreischender, irrer Trip von einem Buch, der Jugend und Erwachsenwerden völlig neu erzählt und das Lebensgefühl einer ganzen Generation umreißt, indem er ihrer Musik Leben einhaucht. Sollte man sich nicht entgehen lassen!
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