Das Philosophenschiff

Das Philosophenschiff
Das Philosophenschiff
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Monika Wenger
851001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2024

Die Wirkung liegt auch zwischen den Zeilen.

Die berühmte Architektin Anouk Perleman-Jacob bittet an ihrem hundertsten Geburtstag einen bekannten Schriftsteller ihre Lebensgeschichte neu zu erzählen. Allerdings mit den Details, die in ihren bisherigen Biographien nicht erwähnt wurden. Sie hat ihn gezielt ausgewählt, weil er im Ruf steht, es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen. „Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen windigen. Ich weiss, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaubt man Ihnen oftmals nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaube Ihnen, wenn Sie schummeln.“

Weltgeschehen auf den Punkt gebracht

Der Schriftsteller, in diesem Roman der Ich-Erzähler, nimmt die Einladung der berühmten Persönlichkeit an. Anouk Perleman-Jacob teilt ihre Erinnerungen und reist zurück in die Zeit nach der russischen Revolution. Die neuen Machthaber festigen ihre Herrschaft, indem sie viele Oppositionelle verhaften und erschiessen. Erst viel später, im Jahr 1922, werden die unerwünschten und störenden Elemente ausgewiesen und ins Ausland abgeschoben. Sie wurden auf Schiffen über die Ostsee ausser Landes gebracht, was einer Deportation gleichkam.
Auch Anouk Perleman-Jakobs Eltern mussten St. Petersburg auf einem Philosophenschiff verlassen. Damals war die Architektin vierzehn Jahre alt. Am meisten interessiert sie, warum auf einem solch grossen Dampfer nur wenige Menschen sind. Diese Frage kann ihr niemand beantworten. Für alle Reisenden gilt ein streng geregelter Tagesablauf. Fragen sind nicht erwünscht. Unterwegs, mitten auf der See, stoppt das Schiff und nimmt einen Passagier an Bord. Jetzt ist das Interesse des Mädchens geweckt. Sie will unbedingt wissen, was es mit dem Unbekannten auf dem ersten Oberdeck auf sich hat.

Spekulationen und Tatsachen

Beeindruckend, was Anouk Perleman-Jacob alles aus ihrem hundertjährigen Leben erzählt. Eher zusammenfassend als detailliert. Das macht die Erzählung real und aktuell. Der Ich-Erzähler, Köhlmeier höchstpersönlich, muss deshalb die fehlenden Informationen selbst recherchieren. Die alte Dame scheint einige wichtige Ereignisse auszulassen.
 „Sie können sich das nicht vorstellen, wie es ist, wenn alles, was geschieht, auf wenigstens zwei Arten gedeutet werden kann. Wenn bei allem der Verdacht besteht, dass es nicht so ist, wie es scheint. Dass alles Inszenierung sein könnte. Aber wir wissen nicht zu welchem Zweck und zu welchem Ziel…“

Michael Köhlmeier vermischt das Historische mit dem Fiktiven. So gab es die Philosophenschiffe und die Deportation von Unruhestiftern wirklich. Vehement verfolgte Lenin seinen Plan, das Sowjetreich von der „Intelligenzija“ zu säubern. Mehrere Schiffe brachten diese gezielt ausgewählten Personen vor allem nach Deutschland. Lenin war allerdings nie auf einem dieser Schiffe. Der Autor manövriert geschickt durch die Gewässer. Vermutungen und Fakten vermischen sich zu einer einzigartigen Geschichte.   

Fazit

Interessante historische Häppchen verbunden mit der Lebensgeschichte einer fiktiven Person machen diesen Roman zu einem Leckerbissen. Die Wirkung dieser Erzählung liegt auch zwischen den Zeilen. Das macht sie interessant und aktuell.

Das Philosophenschiff

Michael Köhlmeier, Hanser

Das Philosophenschiff

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