Die Gebärmutter

Die Gebärmutter
Die Gebärmutter
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Sandra Dickhaus
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Belletristik-Couch Rezension vonMär 2024

Das Wohl der Gemeinschaft steht über dem Wohl des Einzelnen.

„Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte sie nichts über die Menopause und Schwangerschaft oder den Zusammenhang zwischen Menstruation und Eisprung erzählt, geschweige denn, wie eine Frau schwanger wird. All diese Probleme des Erwachsenwerdens hatte ihre Mutter nicht einmal erwähnt.“

Chu Yun lebt im ländlichen China und weiß nichts über ihren weiblichen Körper, und dass sie, nachdem sich Yan Zhenqing „tatsächlich mehrere Male auf sie gelegt“ hatte, ein Kind erwarten könnte. Dies kann im Grunde als Sinnbild für die Hauptthematik des Romans stehen: die Rechte der Frau, Geburtenkontrolle und die Unwissenheit über die Funktion des wichtigsten Organs zur Erhaltung der Menschheit – die Gebärmutter.

In einem Dorf in der chinesischen Provinz Hunan leben über mehrere Generationen hinweg acht Frauen, die dort in zwei Jahrhunderten, dem 20. und 21. Jahrhundert, geboren werden, aufwachsen und ihre Nachkommen großziehen. Familienoberhaupt Qi, in der Qing-Dynastie groß geworden, erlebte noch, wie ihr die Füße zusammengebunden wurden, um den damaligen erotischen Vorstellungen der Männer zu entsprechen. So sind ihre Füße nur noch neun Zentimeter lang und verformt, sehr schmerzhaft. In den Folgejahren bis zu ihrem Tod kann sich die kalte, hart wirkende Frau nur noch mit kleinen Schritten fortbewegen. Sie wird früh Witwe und lässt ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr zu. Das Schicksal des frühen Todes des Ehemannes teilt Wu Aixiang Jahre später auch schon im Alter von 30 Jahren. Sechs Kinder hat sie zur Welt gebracht und zieht sie nun alleine groß. Gesundheitlich ist sie auch nicht gut aufgestellt, was sie auf das erzwungene Einsetzen des „Ringes“, wie sie es nennt, also die Spirale, schiebt. Es scheint sie zu Boden zu ziehen. Nicht nur ihr Leben ist von gesellschaftlichen und politischen Einflüssen bestimmt, auch die Tochter ihres Sohnes muss dies weiterhin schmerzlich erfahren. Sie gehört zur vierten Generation der Familie und wird ungeplant schwanger. Soll sie das Kind bekommen?

Kritischer Blick auf die chinesische Ein-Kind-Politik

Der Autorin Sheng Keyi ist ein kritischer Blick auf die chinesische Familienpolitik bis zum Jahr 2015 gelungen, in der augenscheinlich mit der Ein-Kind-Politik gebrochen wird. Strenge Regeln und Normen bestimmen, dass kein Kind ungeplant entstehen darf. Frauen stehen alleine vor dem Problem, wobei dessen Lösung schon daran scheitert, dass die weibliche Selbstbestimmtheit durch das über Generationen weitergegebene Unwissen über den eigenen Körper und das Zusammensein zwischen Mann und Frau nicht gegeben ist. Hier geschieht eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik voller Empathie, aber auch Schonungslosigkeit. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, kritisiert aber nie direkt die politischen Missstände. Ihr gelingt dies viel subtiler, denn das Erleben der Kritik erfolgt durch die individuellen Schicksale der acht Frauen in ihrer Lebenswelt. Dabei bewahrt sie immer einen ruhigen Duktus, aggressive Züge sind nie zu erkennen. Die Lesenden sollen selber denken und empfinden, so scheint es. Und das gelingt. Fragen über Fragen schwirren beim Lesen im Kopf: Wie reagiert der Staat auf ungeplante Schwangerschaften? Wer darf überhaupt darüber entscheiden? Darf eine Frau nicht über sich und ihren Körper selbst bestimmen?

Frauen richten über Frauen

Erschreckend ist auch, dass in dieser fiktiven Geschichte Frauen über Frauen richten, obwohl sie doch eigentlich in derselben Situation sind. Nein, es herrschen moralische Härte, sogar Häme, und gegenseitige Hilfe bleibt aus. Der Wandel Chinas quer durch die Generationen zeigt, dass die Gemeinschaft immer über dem persönlichen Interesse, den eigenen Bedürfnissen steht. Individualismus ist unerwünscht. Der erzielte Wandel geht auf dem Land nur schleppend voran, wie an den einzelnen Schicksalen erkennbar ist: arrangierte Ehen, Erziehung über mehrere Generationen, keine liebevolle Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Bildgewaltige Äußerungen, unaufgeregt präsentiert, beleuchten die unterschiedlichen Charaktere, in dessen Vielfalt an - für uns gleich klingenden- Namen die Vielschichtigkeit der Lebenswelten deutlich wird. Auch das Gefälle zwischen Stadt und Land.

Fazit

Wer offene Rebellion sucht, ist hier fehl am Platz. Treffende Worte und Kritik im Schicksal der acht Frauen zeigen aber eins: Das Zauberwort ist „Selbstbestimmung“ – doch fehlt in China der Platz dafür. Die eigentlichen Leidtragenden sind die Frauen, sie müssen die Konsequenzen der Familienpolitik ertragen.

Die Gebärmutter

Sheng Keyi, DuMont

Die Gebärmutter

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