Eine Geschichte, die einen Sog entwickelt.
„Bitternis“ ein Roman von Joanna Bator hält was er mit diesem Titel verspricht. Als eine der wichtigsten neuen Autorinnen in Polen bzw. in Europa hat Joanna Bator in diesem Buch ihre Familiengeschichte aufgeblättert und uns zum Lesen gegeben. Eine Saga, die sowohl historische Ereignisse, als auch die menschlichen Tragödien innerhalb dieser Familie umfasst. Wobei der Familienbegriff zu weit gespannt wird. Wie die Autorin in dem Buch mehrfach betont, ist die Chronik ihrer Familie durchsetzt mit „männerförmigen Löchern“. Es ist eine Geschichte von Frauen über vier Generationen in der Gegend um das heutige Wałbrzyski in der WoiwodschaftNiederschlesien.
Es beginnt mit der Urgroßmutter im damaligen Deutsches Reich 1938, aber Enkelin und Urenkelin wachsen in Polen auf. Allein daraus ergeben sich Spannungsfelder, die um die katastrophalen Lebensumstände der Frauen erweitert werden. Menschen, die mittel-oder unmittelbar im Leben der Frauen eine Rolle gespielt haben, werden sehr realistisch charakterisiert und mehr liebevoll als schonungslos gezeichnet. Der Roman wird umarmt von einem Vorwort „Ich“ und einem Nachwort „Ich“. Im ersteren werden wir auf die folgenden Ereignisse vorbereitet, wobei ich den Text erst richtig verstanden habe, als ich das Buch beendet hatte. In ihm versucht die Autorin zu erklären, wie schwierig es für sie war, sich in die Rolle der Erzählerin einzufinden, da sie als Urenkelin selbst als Protagonistin auftritt. Sie hat um diese Form gerungen, oft erzählt sie in der dritten Person dabei Distanz zu den Personen wahrend, denen sie nahestehen müsste. Sie begründet diese Vorgehensweise mit der „wenig gehaltvollen Existenz“ ihrer Person, was auch als Suche nach sich selbst verstanden werden könnte.
Sollte der Leser ein Liebhaber chronologischer Abläufe in einem Roman sein, wird er hier sicher enttäuscht werden. Episodenhaft werden die vier Frauen in der Reihenfolge ihrer Geburt wiederholt nacheinander auftreten und jedes Mal geht ihr Leben ein Stückchen weiter, bis eine weitere Episode einer anderen Frau gewidmet ist. In jedem neuen Abschnitt werden Ereignisse angedeutet, die Schreckliches in sich tragen. Die sich daraus entwickelnde Neugier des Lesers, den Geheimissen im nächsten Kapitel auf die Spur zu kommen, ist da nur folgerichtig. Die Andeutungen werden mit fortlaufender Erzählung zu tatsächlichen Geschehnissen, die zum Teil unglaublich, unfassbar sind. Die wechselnden Perspektiven der Frauen ergeben irgendwann ein Gesamtbild mit unterschiedlichen Stimmungsbildern, die den Leser dauernd im Bann hält.
Berta, die Urgroßmutter wird im Gefängnis im Kindbett sterben. Dem vorausgegangen ist ein Verbrechen. Das Kind von Berta ist Barbara, die ein Kinderheim erlebt, das traumatischer nicht sein kann. Ihr ganzes Leben bestand nur aus einem glücklichen Sommer und ohne etwas verraten zu wollen, auch ihr Geheimnis ist ein Verbrechen. Ihre Tochter Violetta wird aus der Sicht von Kalina, die zeitweilige Ich-Erzählerin, Tochter und Urenkelin, nur wenig positiv gesehen. Sie versucht Verständnis für Violettas ewiges Weglaufen, ihre Sucht nach Anerkennung und filmreif vorbereitete Auftritte zu finden, aber es wird auch deutlich, als Mutter hat sie total versagt. Die Großmutter Barbara (Bunia genannt) ist eingesprungen und hat Kalina groß-und erzogen. Das nur schwer zu ertragende bisherige Leben von Barbara hat in ihrer Psyche Spuren hinterlassen. Dabei sind merkwürdige Gewohnheiten entstanden, die Kalina (Ich) liebevoll beschreibt, aber auch den Hintergrund beleuchtet. Schon im Kinderheim hatte Barbara angefangen, zu sammeln. Erst um den lieben Gott zu besänftigen, der ihre Qualen vermindern sollte, später bei den Pflegeeltern wurden Opfergaben gesammelt, um bleiben zu können. Mit zunehmendem Alter wurde diese Angewohnheit zu einer messihaften Sucht und die vollgestopfte Wohnung sollte später auch ihr Verhängnis werden.
Die Hausgemeinschaft, in die Barbara durch ihre Pflegeeltern „eingepflanzt“ wurde, bleibt ihr ein Leben lang erhalten. Auch dort ergibt sich ein generationsübergreifender Mikrokosmos verschiedenster Menschentypen und ihren Problemen, die mit den drei verbliebenen Frauen des Zyklus gemeinsam leiden und leben. Dabei eröffnet sich dem Leser ein erhellendes Bild auf das postdeutsche Polen nach dem Krieg bis in die Neuzeit hinein.
Eins haben die vier Frauen gemeinsam und das ist ihre Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Glück, das ihnen fast immer verwehrt geblieben ist. Das ist tragisch, das ist bitter, deshalb Bitternis. Vieles bleibt in dieser Familiengeschichte offen, manches aufgegebene Rätsel wird nie aufgelöst.
Joanna Bator, 1968 in Wałbrzych, Polen geboren, hat 2011 den Roman Piaskowa Góra unter dem Titel Sandberg auf Deutsch veröffentlicht. 2013 fand dieser Roman mit Chmurdalia (Wolkenfern) eine Fortsetzung. Der ursprüngliche Ort der Handlung dieser Romane ist Wałbrzych, ihre Heimatstadt. Im weitesten Sinne ist „Bitternis“ ein weiterer Teil dieses Zyklus, zumal die behandelten Themen ähnlich beschrieben sind. Joanna Bator ist bekannt für ihre Essays, Kolumnen, aber auch wissenschaftlichen Arbeiten. Oft sind ihre Publikationen von der japanischen Kultur inspiriert, begründet durch ihren dreijährigen Aufenthalt in Japan. Die Übersetzung von Lisa Palmes empfinde ich als feinfühlig und gut.
Fazit
Es ist kein Buch für schnelles (Über) Lesen. Eine Geschichte, die einen Sog entwickelt, dem sich keiner entziehen kann. Bitter, skurril, tragikomisch und ergreifend. Es hat eine Langzeitwirkung im Gedächtnis, das können nicht alle Lesestoffe von sich behaupten.
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