Ernst kann auch mit Humor erträglich werden.
Dieser Roman lässt uns in eine Zeit zurückblicken, die uns, obwohl nur vier Jahre her, eine Ewigkeit her zu sein scheint. Die Pandemie in New York 2020 ist der Ort des Geschehens. Aber ein Geschehen gibt es nicht wirklich. Die Stadt ist fast menschenleer. Alle, die es sich leisten konnten, sind in ihre Zweithäuser auf dem Land der Pandemie und Ansteckung entflohen. Die Erzählerin ist geblieben und wird um Hilfe gebeten, indem sie einen anspruchsvollen Papagei in einem Luxus Apartment pflegen und unterhalten soll.
Die Besitzer stecken auf dem Land fest und können nicht mehr in ihre Wohnung. Gerne nimmt sich die Erzählerin dieser Aufgabe in der gespenstischen Stadt an. Bis auf Spaziergänge ist außerhalb der Wohnung sowieso nichts zu machen. Menschen, denen sie begegnet, sind durch die Pandemie verändert, dünnhäutiger, verletzlicher geworden. Durch die Einsamkeit wird sie auf sich selbst zurückgeworfen. Unter diesen Umständen ist sie unfähig, zu schreiben, obwohl das ihr Leben ist. Gedanken und Erinnerungen, vor allem letztere, bestimmen ihren Tagesablauf. Sie sinniert über das Buch von Joe Brainard „Ich erinnere mich“ und leitet daraus ihren eigenen Umgang mit der Erinnerung im Schreiben ab. Eine gerade gestorbene Freundin nimmt großen Raum in ihrer Gedankenwelt ein, innerlich setzt sie sich mit ihr und ihrem Leben auseinander, wobei sie so ganz nebenbei die wunderlichsten Geschichten zu der Vergangenheit ausplaudert.
Unterhaltungen
Auf einmal taucht ein junger Mann in der Wohnung auf, der ursprünglich für die Pflege des Papageien da sein sollte. Seine Anwesenheit stört zunächst nicht, da die Wohnung groß genug ist, um sich aus dem Weg zu gehen. Anfangs haben sie gegensätzliche Tagesabläufe, sie geht vormittags spazieren, wenn er noch schläft und er ist weg, wenn sie zu Hause ist. Die Betreuung des Vogels teilen sie sich, wobei die Erzählerin eine intensive Beziehung zu dem Papagei entwickelt und ihn liebevoll beschreibt. Aber irgendwann wird der Kontakt mit dem Mitbewohner enger und interessanter. Der junge Mann aus guten Verhältnissen kommend, und mit psychischen Problemen, konfrontiert sie mit gesellschaftspolitischen Auffassungen, die die Schriftstellerin scheinbar lange hinter sich gebracht hat. Und so gibt es immer öfter wortreiche Scharmützel, wobei sie an der Desillusion des jungen Mannes verzweifelt. Für ihn offensichtlich eine Art von Katharsis, um seine seelischen Probleme, Verletzlichkeiten abzuarbeiten. Die Unterhaltungen werden witzig und Nonsens, als sich beide kiffend im Wohnzimmer wiederfinden.
Innehalten
Wie schon zu Beginn geäußert, ein Geschehen, eine Handlung gibt es nicht in diesem Buch. So wie damals in der Welt, so ist auch dieses Buch ein Stillstand, ein Innehalten. In wunderbarer Sprache und witzigen Wendungen führt uns Sigrid Nunez in ihre Gedankenwelt ein. Ihre Sprache ist schnörkellos und geradheraus. Das macht Spaß beim Lesen. Das Buch trägt zweifelsfrei autobiographische Züge, ist aber auch essayistisch geprägt. Gewürzt ist dieses Werk mit einer Unmenge an passenden Zitaten, ein who is who der Literatur und Publizistik. Es sind Autoren, die ihr wichtig sind und die ihre Freude am Lesen ausdrückt.
Sigrid Nunez, eine US-amerikanische Schriftstellerin ist 1951 geboren und hat nach dem Studium publizistisch gearbeitet. Ihre enge Bekanntschaft mit Susan Sonntag ist auch aus dem Text zu erkennen. Ihre spätere Dozententätigkeit hat sie wunderbar mit dem Schreiben verbinden können.
Fazit
Obwohl in einer sehr harten, schlimmen Zeit entstanden, ist dieses Buch witzig, aber auch genügend tiefsinnig für so viele offene Fragen dieser Welt. Die Pandemie hat uns verletzlich gemacht und verletzlich zurückgelassen. Das Buch ist ein Vorschlag, wie wir dem begegnen können. Ein Nebeneffekt ist die Erkenntnis, dass Ernst auch mit Humor erträglich werden kann.
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