Wo gehören wir wirklich hin?
Ein Mann, vielleicht ein Ire, klopft an die Tür von Eilis Lacey Fiorello und ihr Leben ändert sich schlagartig. Ihre vermeintlich heile Welt gerät aus den Fugen. Seit ihrer Rückkehr aus Irland vor zwanzig Jahren hat sie gemeinsam mit ihrem Mann Tony zwei Kinder grossgezogen. Immer umgeben von Tonys italienischer Familie. Nun ist etwas passiert, das Eilis zurückwirft und zweifeln lässt. War es damals, vor zwanzig Jahren, die richtige Entscheidung, zu Tony zurückzukehren? Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie in Irland und bei Jim Farrell geblieben wäre? Ihre Zweifel treiben sie zurück in die alte Heimat und zu ihrer betagten Mutter.
Einfach mal Abstand
Nein, so einfach wird es nicht. Eilis kommt zu dem Schluss, dass es nicht gerade von Vorteil ist, so nah bei Tony und seiner Familie zu wohnen. Der italienische Zweig ihrer Familie ist vereinnahmend, bestimmend und will Eilis’ Sicht der Dinge weder akzeptieren noch verstehen. Spätestens seit Tonys Seitensprung und dessen Folgen ist Eilis klar, dass sie einmal zu oft geschwiegen hat. Dabei ist es unmöglich, dass sie das fremde Baby in ihrem Haus aufzieht. Einfach inakzeptabel! Doch ihr Mann Tony und ihre Schwiegermutter haben bereits gemeinsam beschlossen, dass es so sein wird.
Eilis braucht also dringend Abstand und reist zum ersten Mal seit zwanzig Jahren nach Irland. Viele Jahre hat sich Eilis mit ihrer italienischen Verwandtschaft arrangiert. Sie hat sich zurückgenommen und hat ihre Schwiegermutter schalten und walten lassen. Aber jetzt ist der Tiefpunkt erreicht. Auf keinen Fall wird sie sich um Tonys Baby kümmern, wie der gehörnte Ehemann und Tony es sich vorstellen. Doch wie jedes Mal hat sie die Rechnung ohne die Schwiegermutter gemacht. Die zieht im Hintergrund bereits die Fäden.
Der achtzigste Geburtstag der Mutter liefert dabei den passenden Vorwand für einen Besuch in Irland. Eilis Kinder, Rosella und Larry, werden etwas später nachkommen. Denn Eilis will nicht, dass ihre Schwiegermutter während ihrer Abwesenheit ihre Kinder umgarnt und beeinflusst.
Zurück in ihrem Heimatdorf brechen die alten Konflikte zwischen ihr und ihrer betagten Mutter wieder auf. Diese ist immer darauf bedacht, was die Leute von ihr und ihrer Familie denken könnten. Sofort findet sich Eilis in ihrem alten Leben wieder. Doch am meisten belastet sie die Erkenntnis, dass sie immer noch tiefe Gefühle für ihre Jugendliebe Jim Farrell hegt. Ihn, den sie vor zwanzig Jahren sang- und klanglos verlassen hat.
Im Dorf geht das Gerücht um, dass Jim der noch immer unverheiratete, eine Geliebte in Dublin hat. Für Eilis eröffnet sich damit die Chance, Jim wieder für sich zu gewinnen. Vielleicht endlich ein Leben mit ihm zu beginnen. Doch die ganze Angelegenheit entwickelt sich zu einem Drahtseilakt. Denn auch Jim hat Geheimnisse.
Bleiben oder gehen?
Der Titel des Buches «Long Island» ist eigentlich irreführend. Der Roman spielt zum grössten Teil in Enniscorthy, in der Nähe von Dublin. Dorthin kehrt Eilis zurück, um Abstand von ihrem komplizierten Leben auf Long Island zu gewinnen. Colm Tóibín treiben im Lauf der Geschichte immer wieder dieselben Fragen um: Ist es besser zu bleiben oder zu gehen? Was wären die Konsequenzen? Wo gehören wir hin? Für Eilis und Jim beginnt ein Reigen, ein Versteckspiel, immer darauf bedacht, den anderen nicht unter Druck zu setzen und doch eine Entscheidung herbeizuführen. Ihre Gedankenspiele hat der Autor mit viel psychologischem Gespür und grosser Spannung inszeniert. Die wechselnden Perspektiven machen neugierig, ebenso die stimmungsvollen Schilderungen des dörflichen Lebens, die das Geschehen hervorragend ergänzen.
Fazit
Die Handlung ist nicht übermässig ereignisreich. Den grössten Raum nehmen die Gedankenspiele der Protagonisten ein. Aber die eher knapp gehaltenen Dialoge erzeugen eine erstaunliche Tiefenwirkung. Eine sehr intensive und aufwühlende Lektüre zur Frage wohin man gehört.
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