Im Galopp durch mehrere Generationen.
Lukas Hartmann ist das Pseudonym von Hans-Rudolf Lehmann. Er wurde 1944 in Bern geboren, wo er auch heute noch lebt. Seit 1970 schreibt der ehemalige Lehrer und Radioredakteur Bücher – für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Einige seiner Werke wurden ausgezeichnet. Hartmann gilt als einer der bekanntesten und erfolgreichsten Autoren der Schweiz.
Das Verdingkind
Martha wächst mit ihren Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Als der Vater stirbt, kann die Mutter die Familie nicht mehr ernähren und die Kinder kommen als Verdingkinder in andere Familien um dort für Kost, Logis und Schulausbildung zu arbeiten. Die Lieblosigkeit und Härte in ihrer Kindheit und Jugend setzt sich für das ganze Leben in Martha fest. Doch die intelligente junge Frau schafft es, mit Ehrgeiz und Durchhaltevermögen, zu Haus und Geld zu kommen. Ihren Kindern allerdings kann sie nur wenig Liebe entgegenbringen, auch deren Leben wird lediglich vom ständigen Streben nach Anerkennung und Wohlstand geprägt. Erst Marthas Enkel wagen es aus diesem Hamsterrad auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Immer auf Distanz
Martha lässt keine große Nähe mehr zu, denn alle, die sie geliebt hat, sind aus ihrem Leben verschwunden. Die Angst abermaliger Verluste lässt sie emotional verhärten. Diese Distanz ist regelrecht greifbar. Lukas Hartmann erlaubt nur eine sehr geringe Annäherung an die Figuren, nicht nur an Martha, sondern auch an ihren Sohn Toni. Dadurch kann man allerdings, trotz der tragischen Schicksale, kaum Empathie empfinden. Zwar gehen so Vergleiche, wie „Verdingkind“ - ein Kind wird zum Ding - sehr nahe; doch die immer wieder zutage tretende Härte - sich und anderen gegenüber - machen es schwer, tiefgreifendes Mitgefühl zu entwickeln. Dennoch schafft es Hartmann den Figuren eine gewisse Tiefe mitzugeben. Marthas Wesen, aus der Not entstanden, und das daraus resultierende fast schon zwanghafte Streben nach Anerkennung und Wohlstand ihres Sohnes zeigen die ganze Verletzlichkeit von Menschen, die die gesellschaftliche Leiter von ganz unten erklimmen wollen. Auf etwas mehr Sympathie können Marthas Enkel hoffen, die aufbegehren und ihren Lebensinhalt nicht unbedingt im sozialen Aufstieg sehen, sondern in der individuellen Selbstverwirklichung.
Viele Leben auf knapp 300 Seiten
Dass man mit den Figuren nicht richtig warm werden kann, liegt auch an dem unglaublichen Erzähltempo. Im wahren Galopp geht es von Marthas Kindheit über ihre Jugend bis zu ihrem Tod. Parallel dazu wird das Leben ihres Sohnes Toni und später auch dessen beider Kinder abgehandelt. Nie bleibt genügend Zeit, in einer Lebensphase zu verweilen, den Gefühlen und Ängsten auf den Grund zu gehen. Emotionen müssen unterdrückt werden, nur harte Arbeit zählt – das merkt man jedem Kapitel, ja jedem Satz des Romans an, der lediglich kaum 300 Seiten für mehrere Leben benötigt. Mehr Distanz und mehr offensichtliche Emotionsunfähigkeit geht nicht.
Die eigene Geschichte
Im Nachwort ist zu lesen, dass Lukas Hartmann in diesem Roman die Geschichte seiner eigenen Großmutter und damit auch seiner Familie aufarbeitet. Auch wenn lediglich Martha ihren tatsächlichen Namen behalten hat, sind die Parallelen unverkennbar. Leider verliert Martha jeden Kontakt zu ihren Geschwistern, die alle in unterschiedlichen Familien verdingt wurden. Man erfährt also nicht, was aus ihnen und der Mutter geworden ist. Doch auch das fördert die Härte in der jungen Frau, die bis zum Umfallen arbeitet und sich nichts gönnt – nicht einmal Bilder an der Wand oder Blumen auf der Fensterbank.
Die Folgen
Gleichzeitig zum Familienroman kann man „Martha und die Ihren“ auch als Gesellschaftskritik ansehen. Wie häufig mit den Verdingkindern umgegangen wurde, ja allein schon, dass es sie gab, zeigt mit dem Finger auf eine Gesellschaft, die nicht viel für die Abgehängten übrighatte. Dass dann deren erbarmungswürdiges Leben auf die nachfolgenden Generationen abfärbt, ist fast schon zwangsläufig und daher erst recht als Kritik aufzufassen. Wie auch bei Kriegskindern werden die Traumata weitergegeben und bedingen dadurch nachfolgende Generationen nicht unerheblich. Der Roman ist daher auch ein Appell an die Gesellschaft, die weniger Begünstigten nicht zu vergessen.
Fazit
Familienroman und Gesellschaftskritik in einem. Jedoch sorgen Erzähltempo und Figurenzeichnung zu einer unüberwindlichen Distanz. Dennoch lesenswert für alle, die gerne Schicksalen auf den Grund gehen und den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart nachspüren wollen.
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