Wenn das Leben zu einer einzigen Obsession wird.
Was ist damals wirklich in Raven Hall geschehen? Diese Frage treibt den inzwischen pensionierten Anwalt Anthony Brewer bis heute an. Er versucht zu rekonstruieren, wie zum Jahreswechsel 1965/66 vier Menschen am altehrwürdigen Knabeninternat im südenglischen Westcott spurlos verschwinden konnten. Gerüchte kursierten seiner Zeit sowohl unter den Lehrern wie auch den Schülern. Eindeutige Spuren und Hinweise gab es aber nicht, so dass die polizeilichen Ermittlungen alsbald wieder eingestellt wurden. Doch Anthony macht es zu seiner Lebensaufgabe, das Mysterium um Raven Hall zu lösen. Gleichzeitig wird es eine Reise in seine eigene Vergangenheit und der Beginn einer obsessiven Suche nach der Wahrheit.
Alleskönner Krausser
Am 11. Juli feierte einer der vielleicht vielfältigsten Autoren Deutschlands seinen 60. Geburtstag: Helmut Krausser. Der Wahl-Berliner schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und komponiert Musik. Krausser ist wahrlich ein Multitalent. Nicht vergessen werden darf, dass der gebürtige Schwabe auch ein hervorragender Schachspieler ist. Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt (u.a. „Fette Welt“, „Der große Bagarozy“, „Einsamkeit und Sex und Mitleid“) und seine Werke in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Vorbild und Verachtung
Alles scheint am einst ehrwürdigen englischen Jungeninternat bereits im Verfall und der Auflösung begriffen, als der 17-jährige Anthony sein letztes Jahr in Raven Hall antritt. Gemeinsam mit drei weiteren Jungen wohnt er in einem Zimmer. Einer von ihnen ist der charismatische, eigenwillige Chris Bradshaw, Sohn aus reichem Hause, der schnell zum Anführer der Gruppe wird. Typischerweise stellt Autor Helmut Krausser ihn als eine Person mit vielen Grautönen dar: kein guter, aber auch kein abgrundtief böser Mensch. Allerdings ist der 18-Jährige ein ebenso selbstbezogener wie triebgesteuerter junger Mann, der versucht, die zehn Jahre ältere Lehrerin Deborah, die ausgerechnet mit seinem Vater ein Verhältnis hatte, für sich zu gewinnen. Dazu nutzt er nicht nur sein intimes Wissen: Er ist auch ein ebenso großer Blender wie begnadeter Manipulator. Der sprachgewandte Chris erscheint als Prototyp eines verzogenen, aus wohlhabendem Hause stammenden jungen Mannes, der glaubt, sich alles erlauben zu können - zumal sein Vater der Schule gegenüber als großzügiger finanzieller Unterstützer auftritt. Es beginnt eine Geschichte, die wunderbar zwischen Schein und Sein zu wechseln vermag. Dabei wird Chris zunächst für Anthony zum heimlichen Vorbild, aber auch immer mehr zu einem moralischen und menschlichen Zerrbild. Die Frage, die Anthony letztendlich antreibt, ist: Was hatte Chris mit den rätselhaften Geschehnissen in Raven Hall zu tun?
Sicht auf die Dinge
Der Berlin Verlag preist das Buch als Spannungsroman an. Allerdings ist das Buch kein klassischer Whodunit. Es geht - wie es der Protagonist Anthony selber beschreibt - um ein Mysterium, das viele Fragen aufwirft, die aber - anders als im Kriminalroman - nicht alle beantwortet werden. Letztendlich geht es noch nicht einmal um die Wahrheit, sondern eher um einen reflektierten Blick auf die Vergangenheit, um zu verstehen, warum und wie die Dinge im Leben geschehen sind.
Der Roman spielt auf drei Zeitebenen. Der besondere Clou besteht darin, dass sich damit auch die Perspektive auf die damaligen Ereignisse ständig verändert. Im ersten Teil des Romans gewähren unter anderem Tagebucheinträge und die Protokolle der polizeilichen Verhöre aus dem Jahr 1965 einen Blick auf die mysteriösen Geschehnisse in Raven Hall, die aber nicht immer im Einklang mit den späteren Aussagen stehen, die die beteiligten Lehrer und Schüler zwanzig Jahren danach in Interviews mit Anthony äußern.
Der zweite Teil des Romans besteht lediglich aus einem einseitigen Intermezzo, das Anthonys Leben zwischen 1985 und 2015 beschreibt. Im dritten Teil tritt Anthony nicht nur mit 67 Jahren in Ruhestand, sondern verstärkt wieder seine Obsession, das Mysterium um Raven Hall zu lösen. Diese dritte Zeitebene, die bis in die Gegenwart reicht, lässt vieles wieder in einem anderen Licht erscheinen. Während der ehemalige Anwalt wieder dem Reiz des Rätselhaften unterliegt, reflektiert er unbewusst auch sein Leben und dessen Wert. Aber auch hier findet er nicht auf alle Fragen eine Antwort.
Fazit
„Freundschaft und Vergeltung“ ist ein durchaus melancholischer Roman, der aber vielleicht nicht immer genau weiß, was er sein will. Aber genau dies trifft auch auf seinen Protagonisten Anthony zu. Während der Roman sich zwischen Kriminalerzählung, Coming of Age und Entwicklungsroman bewegt und mit den Genres spielt, empfindet der Protagonist gleichzeitig Verachtung und Liebe für Chris, der genau das (aus-)lebte, was sich Anthony nie gewagt hätte. Und somit ist es auch ein Roman über verpasste Chancen und moralische Schranken, die man - selbst im hohen Alter - selten zu überspringen vermag.
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