Am Himmel die Flüsse

Am Himmel die Flüsse
Am Himmel die Flüsse
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Birgit von Domarus
801001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2024

Damals zu Urzeiten am Tigris.

Ein Regentropfen, der auf den Kopf des grausamen Herrschers Assurbanipal im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Ninive fällt, eröffnet den Reigen der Geschichten um Mesopotamien, Keilschrift, Eziden, Flüsse und das Wasser. Der Ausgangspunkt ist gut gewählt, beherbergt der Palast von Assurbanipal doch eine bedeutende Bibliothek von Tafeln mit Keilschrift, die Brand, Flut und Krieg überstehen könnten. Diese Tafeln sind das Ziel von unzähligen Archäologen, Forschungsreisenden, Wissenschaftlern, Publizisten, gierigen Antiquitätenjägern und diversen Abenteuern. Elif Shafak macht uns mit einigen von ihnen bekannt.

Ein Fluss in London

Die Themse ist im 19. Jahrhundert eine stinkende Kloake, aber auch eine Einkommensquelle für die Ärmsten der Armen (toshers), da in ihren Abfällen brauchbare Dinge gefunden werden, die auch verkauft werden können. Arthur wird an der Themse als Teil dieser Gemeinschaft geboren und ist einer der drei Protagonisten, die uns fortan im Werk begleiten. Mit dieser Gestalt erleben wir London als eine Stadt der größtmöglichen Gegensätze. Hunger ist Arthurs ständiger Begleiter, der Kampf ums Überleben ist in dieser Stadt gnadenlos. Fast ohne Chance auf Bildung erreicht Arthur jedoch durch Selbststudium ein beachtliches Niveau. Sein Werdegang ist erstaunlich. Seine leidenschaftliche Beschäftigung mit den assyrischen Artefakten im British Museum, die er in den Mittagspausen und in der Nacht betreibt, macht ihn zu einem Experten, der ihn kenntnisreicher als die Wissenschaftler aus dem Museum ausweist. Als es ihm schließlich gelingt, die assyrische Keilschrift zu entziffern, ist die Welt beeindruckt. Bei seiner Arbeit an den Tontafeln aus der Bibliothek des Assurbanipal, hat er die ersten Fragmente des bislang verschollenen Gilgamesch-Epos entdeckt. Die Begeisterung über diese Entdeckung war so groß, dass er für eine Reise ausgerüstet wurde, um die restlichen Tafeln zu diesem Epos zu finden. Auf dieser Reise findet er zu dem Volk der Eziden, schätzt ihre Gastfreundschaft und ist beeindruckt von ihrem Leben. Hier wird der Bogen zur nächsten Gestalt geschlagen, Narin.

Das heilige Lalis-Tal

Am Tigris halten sich die neunjährige Narin und ihre Großmutter häufig auf, um Pflanzen zu sammeln oder zu erkennen. Dabei erzählt die Großmutter ständig Geschichten aus der   Vergangenheit der Eziden, Narin hört zu und stellt Fragen. Die tradierte Bedeutung des Wassers und der Natur bringt die Großmutter Narin bei, und das mit großer Intensität, da Narin bald taub sein wird.

Die Dialoge der Beiden gehören zu den Köstlichkeiten des Buches. Die fast schon zu schöne Welt wird durch beunruhigende Nachrichten und Vorkommnisse gestört. Die Großmutter will dem zuvorkommen, indem sie ein letztes Mal in das heilige Lalis Tal mit Narin reist, um sie dort zu taufen, bevor das gesamte Gebiet durch eine Talsperre geflutet wird. Aber es ist das Jahr 2014 und der IS hat weite Teile des Irak besetzt. Wurden die Eziden in der Vergangenheit auch schon verfolgt, misshandelt und durch Massaker gestraft, so hat der Kampf des IS gegen die «Ungläubigen» eine noch grausamere Qualität hervorgebracht.

Die Großmutter taucht nach Gefangennahme durch den IS nicht mehr auf, es gibt nur eine Version, wie sie umgekommen sein könnte. Narin wird versklavt, gefoltert, vergewaltigt, bevor sie weiterhin in der Türkei als Sklavin gehalten wird. Als Organspenderin weitergereicht, erlebt sie in letzter Minute eine Rettung durch eine junge Wissenschaftlerin aus London, die sich mit Hydrologie der Flüsse beschäftigt. Damit wären wir bei unserer dritten Figur in diesem Roman.

Wie man einen Fluss begräbt

Zaleekhan, eine junge Hydrologin aus London bezieht ein Hausboot auf der Themse. Die Trennung von ihrem Ehemann hinter sich, beschließt sie, nicht mehr leben zu wollen. Aber nicht der Trennung willen, sondern, und hier schließt sich der Kreis zu unseren anderen zwei Gestalten, weil ihre Eltern bei einem Urlaub am Ufer des Tigris ertrunken sind als sie sieben Jahre alt war. Sie hatte sich ein Leben lang vorgehalten, an dem Unglück schuld zu sein, mit der Folge einer dauerhaften Depression.

Trotz allem verfolgt sie leidenschaftlich die Entwicklung der Flüsse und Flusslandschaften, hier erfährt der Leser auch von den längst verschütteten Flüssen, die unterirdisch in den großen Städten wie London und Paris einmal die Landschaft bereichert haben. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten lassen immer mehr erkennen, dass das Wasser zukünftig das Problemfeld der Menschheit sein wird. Verschmutzung, Dürren, Überflutungen sind ihr Forschungsthema und unser Problem.

Ihr Onkel, im Nahen Osten aufgewachsen und in London reich geworden, hat sie als Waise aufgenommen und aufgezogen. Noch immer hält er die Hand über ihr Schicksal, aber als er Narin als Nierenspenderin für seine Enkeltochter kaufen will, hält Zaleekhan trotz aller Dankbarkeit dagegen und rettet so das ezidische Mädchen aus dem Irak. Das ist zwar eine etwas märchenhafte Konstruktion, aber es hinterlässt trotzdem ein Leseerlebnis ohne Nachgeschmack.

In den 600 Seiten dieses Romans werden wir mit einem Füllhorn geschichtlichen, religiösen und naturwissenschaftlichen Wissen konfrontiert ohne belehrend oder anstrengend zu sein. Ganz im Gegenteil, die Seiten verfliegen im Nu, die Spannung ist nie aufgehoben. Das mag am Romanaufbau liegen. Kurze Abschnitte, in denen abwechselnd Arthur, Narin oder Zaleekhan in dem jeweiligen Zeitfenster in ihrer Entwicklung beschrieben werden, erhöhen die Spannung.

Wobei alle drei Handlungsstränge dies verbindet: das Wasser und das alte Mesopotamien. Dabei werden so viele ethische Fragen wie existenzielle Fragen aufgeworfen, die allein schon einen Diskurs wert wären. Zum Beispiel wem gehört Kunst, wer darf sie bewahren, zeigen und behalten? Oder die erwähnten Staudammprojekte, die eine ganze Kulturlandschaft überflutet haben und damit das Gedächtnis an alte Überlieferungen auslöschen.

In diesem Roman ist vieles historisch verbürgt, was Elif Shafak im Anhang auch ausführlich erläutert. Mich hat es dazu inspiriert, selbst anhand der beschriebenen Ereignisse zu recherchieren und in der Geschichte Mesopotamiens nachzulesen.

Elif Şhafak , 1971 in Straßburg geboren, ist eine britisch-türkische Autorin. Sie hat in Ankara studiert und in der Türkei auch publiziert. Sie lebt in London und gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei sowie zu den türkischen Schriftstellern mit hohem Bekanntheitsgrad im Ausland.

Fazit

Die Wassertropfen wandern entlang der Geschichte Mesopotamiens, auf der Reise nach London an die Themse und wieder zurück zum Tigris. Ihre Wanderungen sind ein Abenteuer für den Leser mit erstaunlichen Erkenntnissen.

Am Himmel die Flüsse

Elif Shafak, Carl Hanser

Am Himmel die Flüsse

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