Eine stille Betrachtung über Loslassen und Heimat
Für Nicola ist es die Wohnung, durch die er einst in den Ferien getobt ist. Nicolas Vater Riccardo verbindet die Wohnung, in der er geboren wurde, mit dem Zerfall der Familie und einem stetigen Streit unter den Geschwistern. Großvater Leonardo hingegen sieht in der Wohnung ein Stück Heimat und findet darin die nachhallenden Töne einer längst vergangenen Zeit. So unterschiedlich die Empfindungen der drei Männer sind, so stark verbindet die Wohnung am Meer die drei Generationen dennoch. Gemeinsam sind die drei von Mailand nach Apulien aufgebrochen, um die längst nicht mehr bewohnte Behausung zu verkaufen. Jeder der drei kommt sich auf dieser Reise selber ein Stück näher, erkennt verpasste Chancen in der Vergangenheit und fragt sich nach der Bedeutung von Heimat. Die Reise überbrückt aber nicht nur räumliche Distanz sondern auch persönliche.
Leicht macht es Marco Balzano seinen Lesern nicht. Die vom Enkel Nicola, einem jungen, arbeitslosen Lehrer, in Ich-Form erzählte Familiengeschichte kommt nur scheinbar mit einer gewissen Leichtigkeit daher. Je intensiver man sich auf die Geschichte einlässt, desto deutlicher tritt ein leicht bitterer Unterton zutage. Das Loslassen von Vergangenem ist nicht nur für den Großvater ein schwieriges Thema, auch Enkel Nicola muss erkennen, dass er mit seinen erst 26 Jahren bereits mitten in diesem Prozess steckt. In kurzen Rückblenden lässt Nicola das Bild einer glücklichen Kindheit entstehen, das nur durch zunehmende Streitigkeiten innerhalb der Familie eingetrübt wird. Die Gegenwart hat hingegen eine deutlich herbere Komponente. Riccardo, von seinem Sohn zutiefst enttäuscht, lässt Nicola seine Verachtung immer deutlicher spüren. Und Leonardo, in dem Nicola bisher einen Vertrauten gefunden hatte, ist zu stark in seinen eigenen Erinnerungen gefangen, um seinem Enkel beizustehen.
Der Versuch, sich von der nahezu vergessenen Wohnung am Meer zu lösen ist gleichzeitig ein Versuch aller drei Protagonisten, sich einer veränderten Gegenwart zu stellen und an die Zukunft zu glauben. Autor Marco Balzano erzählt dabei zwischen den Zeilen von unerfüllten Hoffnungen aber auch von zärtlicher Zuneigung und innigem Vertrauen. Er zeichnet ein höchst liebevolles Bild von einem in sich zerrissenen Italien, dessen Nord-Süd-Gefälle immer ausgeprägter wird. Trotz der zärtlichen Betrachtung einer Gesellschaft, die dem Stellenwert der Familie noch immer hoch hält, versteht es Balzano, einen ungeschminkten Blick auf Italien zu werfen. Wirtschaftliche wie auch strukturelle Probleme werden nicht ausgeklammert, bleiben aber in kleinen Dosen, so dass das sich stetig verändernde familiäre Gefüge im Mittelpunkt bleibt.
Sich auf die drei Protagonisten einzulassen, heißt, Gefühle zu entwickeln. Bald steht Leonardo dem Leser so nahe, als wäre es der eigene Großvater, der durch die Geschichte spaziert. Auch Nicola schafft es, von der Zwei-Dimensionalität in die Drei-Dimensionalität zu wechseln. Nur Riccardo mit seinem stillen Zorn, der sich bald gegen den Vater, bald gegen den Sohn und zwischendurch gegen die Geschwister richtet, scheint die Distanz zum Leser nicht überbrücken zu können. Er bleibt in der Wahrnehmung lau, manchmal leicht bedrohlich. Man mag es dem Autor nachsehen, dass er nicht alle drei Protagonisten gleichermaßen aus dem Dunkel ins Licht treten lässt. Zu überzeugend ist die Geschichte, zu groß der Genuss, einer stillen Melodie von Heimat und Loslassen zu lauschen.
In Damals, am Meer wartet der Leser vergebens auf ein Crescendo, das in eine opulente Situation mündet. Es ist ein Buch der leisen Töne, was aber der Intensität der erzählten Geschichte keinen Abbruch tut. Und es ist zumindest ein Denkanstoß, was die Beziehung zur eigenen Familie betrifft.
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