Das verfallene Herrenhaus

  • Reclam
  • Erschienen: September 2024
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Das verfallene Herrenhaus
Das verfallene Herrenhaus
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Stefanie Eckmann-Schmechta
931001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2024

Zeitlos und wunderschön.

Die Klassiker wie «Der Kleine Lord» oder «Der Geheime Garten» sind wohl fast jedem bekannt. Die Autorin dieser Werke vielen sicherlich nicht. In ihrem wiederentdeckten, zeitlosen Klassiker «Das verfallene Herrenhaus» erzählt Frances Hodgson Burnett von den wachsenden Verbindungen zwischen dem britischen Königsreich und den Vereinigten Staaten von Amerika Anfang des 20. Jahrhunderts. In ihrem fast 800 Seiten umfassenden Werk erzählt sie von einer übereilten Ehe, die für die junge Braut in einem Desaster endet. Grandios und geradezu filmreif inszeniert Hodgson Burnett die grausamen Repressalien und das «Gaslighting» des vermeintlichen Edelmannes, aus denen sich die junge, einst so behütete Frau nicht selbst befreien kann.

Das Geschäft mit Titeln und Vermögen

Vielen namhaften Adelsgeschlechtern im Königreich Groß Britanniens ist das Geld ausgegangen. Die Unfähigkeit, mit dem Geld zu haushalten oder gar neues Kapital zu erwirtschaften, lässt nicht nur alte Herrenhäuser verfallen, sie erstreckt sich auch auf die Ländereien und die dazugehörigen Ortschaften – und damit auf die dort lebenden Menschen.

Ganz anders viele Meilen über dem «großen Teich» in Amerika. Hier haben einige erfolgreiche Familien mit Instinkt und Geschäftssinn ein so gigantisches Vermögen erschaffen, dass nun die britischen Aristokraten auf diese Millionen schielen und dieser durch Heirat habhaft werden möchten.

Die Sehnsucht nach den Wurzeln auf der amerikanischen Seite und das wachsende Interesse des «alten Kontinents» an der modernen Gesellschaft Amerikas ist Hodgson Burnetts roter Faden. Sie beschreibt nachdrücklich, wie sich mit der Zeit immer engere Verbindungen zwischen den beiden Kontienten ausbilden. Somit ist auch der englische Originaltitel «The Shuttle» wohl treffender, werden die Überfahrten doch immer alltäglicher und sicherer. Damit ist der Roman auch ein authentisches Zeitdokument für die Art und Weise, wie man die Entwicklung dieser Beziehungen, zusammen mit dem technischen Fortschritt, eingeschätzt und erlebt hat. 

Als eben diese «Fäden», wie Hodgson Burnett sie nennt, noch etwas loser sind, geht Sir Nigel Anstruthers unauffällig auf Brautschau – und ist erfolgreich. Er ehelicht die Tochter des amerikanischen Multimillionärs Vanderpoel, Rosy Vanderpoel. Erwartungsgemäß erhält sie eine stattliche Mitgift und glaubt, dass sie dem Edelmann auf ein romantisches Schloss in die idyllische Heimat folgt. Doch kaum sind sie außer Reichweite der Familie, zeigt der Gatte sein wahres Gesicht. Auf dem verfallenen Herrenhaus der Anstruthers angekommen, bringt Sir Nigel seine ahnungslose Frau auf jede erdenklich manipulative Weise unter Kontrolle. Er erwartet, dass sie sich ihm ganz unterwirft und ihm ihr ganzes Geld überschreibt. Betty, die es aus ihrer Heimat gewohnt ist, dass ein Mann für sein Vermögen selbst sorgt, versteht nicht, was von ihr erwartet wird. Sie ist mit dem ersten Sohn, Ughtred schwanger, als Sir Nigel, in seiner unbändigen Wut, die zierliche Rosy brutal angreift und der jungen Frau jeden Lebensmut nimmt. 

Doch so hoffnungslos es zunächst für die junge Ehefrau auch scheint, dies ist auch die Bühne für eine strahlende Heldin.

Eine Lichtgestalt in der Dunkelheit

Zwanzig Jahre später löst ihre jüngere Schwester Betty ein Versprechen ein, das sie sich selbst gegeben hat. Nachdem die Familie in der Vergangenheit kaum Kontakt zu Rosy hatte, kein einziges Treffen zustande kommen wollte, reist Betty nun ohne Vorankündigung zu ihrer Schwester, um herauszufinden, wie es um Rosy steht. Das, was sie vorfindet, schockiert sie zutiefst: Ihre Schwester, vorzeitig gealtert, ist ein reines Nervenbündel, ihr Sohn Ughtred körperlich behindert. Das Herrenhaus ist auf schändliche Weise dem Verfall preisgegeben, obwohl eine beträchtliche Summe seitens der Vanderpoels gezahlt wurde. Der Gatte, Sir Nigel Anstruthers, ist nicht auffindbar.

Betty, die im Gegensatz zu ihrer Schwester Rosy für Courage und Handlungsfähigkeit steht, ist nicht nur außergewöhnlich schön, sie schafft auch mit ihrer zugewandten Art neue Beziehungen in allen Kreisen. Sehr geschickt leitet sie ihre kraftvolle Intervention in die Wege und verändert das Leben im Herrenhaus und im Dorf auf nachhaltige Weise. Und da ist auch noch ein weiteres wunderschönes Anwesen, dessen Besitzer aber nicht untätig war und in Amerika sein Glück gesucht, aber es nicht gefunden hat. Der 15. Earl von Mount Dunstan.

Doch das Glück währt nicht lange. Frances Hodgson Burnett schafft mit Nigel, dem in seiner einfältigen Boshaftigkeit niemals in den Sinn gekommen ist, seine Frau gut zu behandeln und sie um ihre Hilfe zu bitten, einen sehr starken Antagonisten. Zunächst versteckt hinter Höflichkeiten, werden Sir Nigel und Betty immer mehr zu Rivalen. Ihre Dialoge – und zum Ende ihre Schlagabtausche - hat Frances Hodgson Burnett so intensiv und spannend inszeniert, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte: Wer macht den entscheidenden Schachzug, wer gewinnt im Kampf zwischen Gut und Böse? Während Betty alles versucht, ihre Schwester Rosy vom Einfluss ihres sadistischen Ehemannes zu befreien, fühlt sich dieser auf sehr niederträchtige Weise immer mehr zu Betty hingezogen. Betty weiß zum ersten Mal nicht weiter, denn Betty kann unter den intriganten Machenschaften ihres Schwagers nicht bleiben. Aber sie kann ihrer Schwester zuliebe auch nicht gehen.

Die Alte und die Neue Welt

Die Beziehungen und Unterschiede zwischen England und den USA waren für Frances Hodgson Burnett in vielen ihrer Romane ein wichtiges Thema. Sie hatte durch ihre Geburt in Nordengland 1849 und ihr weiteres Leben in den Vereinigten Staaten, wo sie 1924 verstarb, einen guten Einblick in beide Welten. Ihr Roman ist aufgrund ihrer großartigen Beobachtungsgabe und sprachlichen Treffsicherheit keinesfalls altbacken. Im Gegenteil, findet man in ihren Analysen so viele interessante Bilder und Beschreibungen, die auch heute noch ihre Gültigkeit haben. Ihre Sprache ist erfrischend einfallsreich und durch die gut gesetzten humorvollen Untertöne, ihre oftmals leicht ironischen Anspielungen, sehr unterhaltsam.

Ihre Protagonistin, Betty, ist klug und schlagfertig. Sie lässt sich von niemandem einschüchtern. Eine starke Frau also, die insbesondere für die damalige Zeit überaus emanzipiert handelt und denkt. Sehr unterhaltend, mit vielen Nebengeschichten, ist der Prozess, wie ihre Heldin das Schicksal für alle zum Guten wendet. Dieser Teil ist einfach herzerfrischend. Gebannt verfolgt man, wie sie ein Wunder schafft, an das niemand mehr geglaubt hat. Die Art, wie sie mit ihren Zwischentönen, Verweisen und Andeutungen die Dinge greifbar macht, ist nicht immer auf Anhieb leicht zu durchdringen, aber hat man sich einmal eingelesen, ist dies ein überaus amüsanter Zugang. Wer auch nur etwas sprachverliebt ist, kommt hier ganz auf seine Kosten.

Frances Hodgson Burnetts Geschichten haben oft etwas Märchenhaftes, aber natürlich gibt es noch das Böse, das ihre heile Welt zerstören will. Dies wird gerade zum Ende hin deutlich, als es zwischen Sir Nigel und der strahlenden Betty zu der lähmenden Pattsituation kommt. Da gilt es auch für uns, etwas durchzuhalten. Denn all die Lügen und Intrigen, wie auch die Verzweiflung, erhalten in Hodgson Burnetts Welt sehr viel mehr Dramatik und Dimensionalität. Und vor dem Hintergrund, dass der Roman 1907 veröffentlicht wurde, wirkt dies alles heute etwas mit Weichzeichner und dramatischer Filmmusik inszeniert.

Demut und Dankbarkeit, das altbekannte und immer noch beliebte Thema «Oben und Unten», eingebettet in einer wunderschönen, englischen Landschaft mit echten Originalen, erinnert mich sehr an «Downton Abbey». Und mehr als einmal habe ich mir bei dieser faszinierenden Lektüre gewünscht, dass sich Julian Fellows auch dieses Klassikers annehmen würde. Doch, wer weiß, vielleicht hat er sich auch schon von Hodgson Burnetts Roman inspirieren lassen?

Fazit

Es ist eins der schönsten und zeitlosesten Bücher, die ich kenne. Es besitzt in so vielen Aspekten noch immer Gültigkeit und entführt uns zugleich in längst vergangene Zeiten. Die Fäden von Frances Hodgson Burnetts Roman „Das verfallene Herrenhaus“ sind so dicht und geschickt gesponnen, dass es noch heute ein wahres Vergnügen ist.

 

Das verfallene Herrenhaus

Frances Hodgson Burnett, Reclam

Das verfallene Herrenhaus

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