Das gläserne Paradies

Das gläserne Paradies
Das gläserne Paradies
Wertung wird geladen
Carola Krauße-Reim
701001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2024

Der schöne Schein muss gewahrt werden.

Professorengattin Amelie Born feiert ihren 60. Geburtstag groß und in gediegenem Ambiente. Doch was wie eine harmonische Familie mit zugetanem Freundes- und Kollegenkreis aussieht, ist in Wirklichkeit ein katzbuckelnder Haufen Untergebener und eine Familie, die nur darauf bedacht ist, dass die Fassade nicht bröckelt. Friedrich, der ältere Sohn, ist ein Kapitalist ohne jeden Skrupel. Sein Bruder Michael hat eine „unglückliche Veranlagung zum sozialen Engagement“ und ist damit das wenig vorzeigbare schwarze Schaf der Familie. Tante Martha ist zur Mater Ambrosia gewandelt und schmuggelt heimlich Haschisch; Tante Olga führt einen literarischen Salon mit fragwürdigen Autoren und hat außerdem Last mit Onkel Egon, der Schrumpfköpfe etwas zu sehr liebt und außerdem gerne Hirn mit Soße isst; und Freund Professor Baumgart vergisst beim Anblick hübscher junger Damen alles – auch den Anstand.

Angelika Mechtel

Die 1943 in Dresden geborene Angelika Mechtel wuchs in der Bundesrepublik auf und wurde bald zu einer bedeutenden literarischen Stimme. Neben Romanen und Gedichten schrieb sie auch Kinderbücher, Reportagen, Drehbücher und Hörspiele. Sie setzte sich für verfolge Schriftsteller ein, war Vizepräsidentin des westdeutschen PEN-Zentrums und Bundesvorstand des VS (Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller). Nach einer rezidivierenden Krebserkrankung verstarb Mechtel 2000 in Köln. „Das gläserne Paradies“ erschien bereits 1973 erstmals.

Familiensaga der anderen Art

Spitzzüngig und mit viel Humor lässt Angelika Mechtel Einblicke in die Familie Born zu und damit in eine sich ändernde deutsche Gesellschaft. Es ist eine Zeit des Wandels: Während die Älteren immer noch in übernommenen Werten und Rollenverständnissen festhängen und manchmal auch noch sehr im dritten Reich verwurzelt sind, wollen die Jungen das alles aufbrechen und hinterfragen. Es entstehen zwangsläufig Spannungen und Verwerfungen. Doch der schöne Schein muss immer gewahrt bleiben – zumindest für die ältere Generation. Was sich hinter verschlossenen Türen und Vorhängen abspielt, kann noch so abstoßend sein – es wird intern geregelt und niemals nach außen getragen. Mechtel beschreibt die muffige Gesellschaft sehr eindrücklich, auch wenn manches heute vielleicht nicht mehr ganz aktuell erscheint. Doch das Problem von dringenden Veränderungen ist wahrscheinlich immer zeitgemäß, nur die Themen ändern sich.

Kurzweilig und dennoch tiefsinnig

Während der Geburtstagsfeier von Matriarchin Amelie Born werden uns die Mitspieler des gesellschaftlichen Dramas vorgestellt. Danach dürfen wir sie abwechselnd begleiten, wobei in die narrative Handlung immer wieder Briefe eingeschoben werden, die sehr viel über die Schreiber und auch die Empfänger aussagen. Mechtel schafft ein verstörendes Bild von einer Familie, die sich von innen heraus selbst zerstört, weil sie unfähig ist den gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen. Was sich sehr trocken anhört, ist ein Familiendrama, das sich trotz aller Intensität gut lesen lässt, schnell packend wird und immer wieder auch humorvoll ist – vor allem wenn Onkel Egon sein Faible für Schrumpfköpfe auslebt oder Mater Ambrosia (!) blauäugig durch das Leben wandelt.

Fazit

Ein gesellschaftskritischer Roman, der manchmal vielleicht etwas überholt erscheinen mag, aber dennoch in seiner Aussage immer aktuell ist. Angelika Mechtel schafft es mit Humor und Tiefsinn zu begeistern und zum Nachdenken anzuregen.

Das gläserne Paradies

Angelika Mechtel, Rowohlt

Das gläserne Paradies

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Das gläserne Paradies«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik