Der Anfang vom Ende einer Ehe.
Um das Zimmer im Titel dieser wiederentdeckten Literatur der Dänin Tove Ditlevsen kreisen die Geschehnisse, die autofiktional die letzte Ehe der Schriftstellerin skizzieren. Gleich im ersten Kapitel wird das Zimmer abgerissen und zerstört. Der Bewohner dieses Zimmers war der Ehemann namens Vilhelm, der es und die Ehefrau für eine andere Frau verlassen hat. Er hat alles zurückgelassen, so als würde er bald wiederkommen, aber im Verlauf der Geschichte wird jedem klar, dass das nicht passieren wird.
Die Annonce
Die Geschichte um die letzten Momente dieser Ehe wird nicht chronologisch erzählt, als Leserin wurde ich förmlich hineingestoßen, dabei habe ich anfangs auch nach Orientierung gesucht und nur in Ansätzen gefunden. Erst die Beschäftigung mit ihrem Leben hat einige Rätsel lösen können. Die von ihrem Mann verlassene Schriftstellerin Lise Mundus erlebt die Trennung als große Erfahrung von Einsamkeit. Zu Beginn war sie in einer psychiatrischen Klinik in Behandlung. Eine Gefährtin hat sie dazu gebracht, das leere Zimmer in ihrem Zuhause mittels einer Heiratsanzeige mit einem Mann zu füllen.
Die Bekanntheit von Lise als Schriftstellerin und Vilhelm als Chefredakteur einer großen Boulevardzeitung führte zu großem Aufsehen. Durch diese Annonce ist ein Untermieter des Wohnhauses aus dem oberen Stockwerk aufmerksam geworden und hat seine Chance genutzt. Im Verlaufe der Geschichte hat er das Zimmer mit seiner Person gefüllt, war dem Sohn von Lise und Vilhelm ein Gesprächspartner und Lise hat die Leere nicht mehr in vollem Ausmaß gespürt.
Abgesehen davon, dass dieser Mann fast geisterhaft auftrat, ein ekliges Verhältnis mit seiner Vermieterin pflegte und ein absurdes Verhalten an den Tag legte, war klar, dass er nicht derjenige war, der die Hölle in ein Paradies verwandeln würde. Er ist dann so geisterhaft wie er gekommen ist, auch wieder aus dem Buch verschwunden.
Befreiung und Kampf
In den beschriebenen Rückblicken auf diese Ehe konnte ich erkennen, wie weit Lise und Vilhelm davon entfernt waren, eine Ehe ohne Exzesse, Demütigungen, Brutalität zu führen. Dass Liebe, Leidenschaft und gegenseitiges Auffangen auch mal eine Rolle gespielt hat, ist nur noch ganz undeutlich zwischen den Zeilen zu erkennen. So hat Vilhelm immer wieder betont, dass er ihr Leben gerettet hat. Das kann die Befreiung von der Drogensucht gewesen sein, die Tove Ditlevsen tatsächlich mehrmals in Entzug und Psychiatrie gebracht hat. Der letzte Ehemann hat sie wirklich davon befreit.
Hilfe, die keine ist
Dieser letzte Roman von Tove Ditlevsen ist 1975 entstanden, also in einer Zeit, als das Eheverständnis noch ganz anders geprägt war. Das Leben der Beiden ist ein fast revoluzzerhaftes Aufbegehren gegen diese bürgerliche Welt mit schlechtestem Ausgang. Keiner von ihnen hat gewollt, dass es so ausgeht. Vilhelm missgönnt Lise ihre literarischen Erfolge und wird brutal. Eine letzte Möglichkeit etwas von dieser Beziehung zu retten, war die Inanspruchnahme von Psychiatern. Das Witzige ist, dass die Psychiater sich kannten und durch Lise bzw. Vilhelm eine Art Krieg mittels ihrer Ratschläge an den jeweiligen Partner gegeneinander führten. Es liest sich urkomisch, aber das hat das Ende der Beziehung nur beschleunigt und ist letztlich auch nicht lustig.
Das Fehlen eines eigentlichen Handlungsstranges, die multiperspektivische Schreibweise, indem Lise manchmal Lise ist, ein anderes Mal eine Ich-Erzählerin ohne Übergang, oder außenstehende Betrachter machen das Lesen und die Orientierung manchmal schwierig. Surrealistische Sprach-Bilder erschweren den Bezug zu realen Vorgängen.
Aber der Leser wird belohnt mit einer Fülle sprachlicher Wendungen, die lustig, sarkastisch oder einfach nur schön sind. Manche Sätze sind wahr, aphoristisch und könnten ein weiteres Büchlein füllen.
Tove Ditlevsen, die ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Buches Selbstmord begangen hat, war eine bekannte dänische Schriftstellerin, die aber bis auf die Wiederentdeckung in letzter Zeit, in Vergessenheit geraten ist. Vermutlich war sie ihrer Zeit weit voraus und konnte damals noch nicht verstanden werden.
Fazit
Die Wiederentdeckung der Tove Ditlevsen aus der Zeit der 70-er Jahre kann eine Erweckung werden, wenn man sich auf einen sehr speziellen Romanaufbau einlässt. Der Spaß ist garantiert, aber auch Bitterkeit, die bleibt.
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