Eine irrwitzige, aber auch zutiefst traurige und lehrreiche Geschichte.
Kreskol ist eine unbeschwerte, friedliche kleine Stadt in Mitten eines polnischen Waldes. Seit Jahrzehnten hat sich der Ort nicht verändert und so ist er bis heute ohne Autos, Strom, Sanitäranlagen und Internet. Bis auf eine Gruppe Roma, die ab und an Kreskol besucht, haben die Bewohner keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Mehr noch: Man hat ganz vergessen, dass es die Stadt überhaupt gibt. Auch die Einwohner selber haben ihr geliebtes Kreskol nicht mehr verlassen - und wenn doch, sind sie nie zurückgekehrt. Selbst den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust haben sie wie durch ein Wunder nicht miterlebt.
Doch dann verändert ein Ehestreit das friedliche Leben in der unbekannten Stadt: Pescha Lindauer trennt sich von ihrem Mann und verschwindet plötzlich. Als dieser ebenso die Stadt unerwartet verlässt, verdichtet sich der Verdacht, dass einer seine Frau ermordet haben könnte. Die Rabbis der Schtetls schicken daher den Außenseiter Jankel Lewinkopf los, um beide zu finden. Jankel begegnet der Schönheit und den Schrecken der modernen Welt - und wird zuerst für verrückt gehalten. Als die Wahrheit ans Licht kommt, sorgen seine Geschichte und die Existenz Kreskols landesweit für Schlagzeilen und die Stadt stürzt schlagartig ins 21. Jahrhundert - mit ungeahnten Folgen für die Bewohner. Doch trotz aller Berühmtheit bleibt Jankel einsam und beschließt, Kreskol den Rücken zu kehren. Ein Abenteuer ungeahnter Natur liegt vor ihm und eine Suche nach sich selbst beginnt.
Journalist und Schriftsteller
Autor Max Gross wurde 1978 in New York City geboren und machte seinen Abschluss am Dartmouth College. Er schrieb für die Zeitungen „Forward“ und war Redakteur bei der „New York Post“. Derzeit ist er Herausgeber des „Commercial Observer“. Sein erstes Buch waren die Memoiren „From Schlub to Stud“. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in New York. „Das vergessene Schtetl“ ist sein erster Roman, der dank des Katapult-Verlags aus Greifswald nun auch in Deutschland erscheint.
Gross, der nach eigenen Angaben weder religiös ist und erst einmal Polen besuchte, stützt sich für seinen Roman auf ausgewählte Quellen, aber auch auf Fachleute der jüdischen Kultur. Sein Schreibstil erinnert mitunter an die Kurzgeschichten des jiddischen Schriftstellers Isaac Bashevis Singer, der 1978 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Unglaubliche Geschichte
„Das vergessene Schtetl“ des US-amerikanischen Autors Max Gross ist eine wunderbare Geschichte, die in bester Tradition eines klassischen Schelmenromans steht: In Form einer Retrospektive erzählt ein nicht näher bestimmter Einwohner Kreskols die Ereignisse rund um den Bäckergesellen Jankel Lewinkopf. Dabei verknüpft er dessen individuellen Lebensweg mit der Geschichte rund um die Entdeckung des unbekannten Schtetls. Gross reiht verschiedene Episoden aneinander, deren verbindendes Element zumeist der Protagonist ist. Gerade diese kaleidoskopartige Erzählweise besitzt ihren ganz eigenen Charme, erfährt man doch viel Wichtiges, aber auch ebenso viel Nebensächliches über die Figuren und ihr Leben - auch wenn der Roman dadurch kleinere Längen besitzt. Es dominiert nicht selten ein derber Realismus, besonders im sexuellen Bereich. Mit feinem (jüdischen) Humor, aber auch irrwitzigen und satirischer Elemente erzählt Max Gross eine Geschichte, die mal witzig, mal traurig ist und nicht selten zum Nachdenken anregt.
In deren Mittelpunkt steht Jankel Lewinkopf, ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen - selbst für das rückständige Kreskol. Er wächst ohne elterliche Erziehung bei unterschiedlichen Verwandten auf, die Mutter stirbt früh, der Vater ist unbekannt. Jankel lernt dadurch keinerlei gesellschaftliches Wertesystems kennen. Alles, was er macht, ist von seinem Selbstverständnis geprägt, anderen gerecht zu werden.
Vielschichtiger Roman
Das Buch enthält großartige Episoden. Eine, die dem Leser sicherlich in Erinnerung bleiben wird, ist Jankels Begegnung mit den Ärzten und Psychiatern im Krankenhaus, die den unwissenden jungen Mann über den Holocaust aufklären wollen. Wie aber bringt man einem Juden bei, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist? Soll man es ihm einfach sagen? Und wenn ja, wie? Sensibel oder direkt? Einer der Ärzte schlägt den Film „Schindlers Liste“ vor, andere wollen Jankel unmittelbar vom Holocaust erzählen. Doch als der behandelnde Arzt Dr. Fischbein ihm erzählt, dass sechs Millionen Juden in Europa ermordet worden seien, ist der einfache Bäckergeselle alleine mit der Größenordnung vollkommen überfordert und glaubt, dass man ihn für dumm verkauft:
„, Ach, kommen Sie. […] Sie machen doch Witze.‘ -, Ich wünschte, es wäre so.‘ Jankel starrte Fischbein in die Augen und erwartete, dass der Mann in Gelächter ausbrechen würde. Dann fragte er sich, ob er nicht einfach mitspielen sollte, wie bei einem Kabarett-Duo, das auf die Pointe hinarbeitet.“
Es sind Stellen wie diese, die unter die Haut gehen und einem die Grausamkeit des Holocaust mit ungeahnter Wucht spüren lassen. Dass dies so eindringlich geschieht, liegt auch daran, dass man versucht, etwas in Worte zu fassen, was sich nicht in Worte fassen lässt. So bleibt das Grauen des Zweiten Weltkrieges für beide Seiten - den unwissenden Juden und die aufgeklärten Ärzte - im wahrsten Sinne des Wortes „unfassbar“.
Der Roman ist aber weitaus vielschichtiger. Es geht ebenso um Vorurteile dem Alten, d.h. den Menschen Kreskols, gegenüber, aber auch der modernen Welt. Als Bindeglied agiert der Außenseiter Jankel Lewinkopf, von dem am Ende nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch der Leser einiges gelernt hat.
Fazit
Ein Schelmenroman, ein Entwicklungsroman oder doch ein Gesellschaftsroman? Es bleibt dem Leser überlassen, diese großartige Geschichte einzuordnen. Dabei ist es gleichgültig, zu welchem Ergebnis man kommt. Was zählt, ist trotz kleinerer Längen der großartige Plot, die herausragende Erzählweise und die wechselnden Episoden, die sich zu einem wundervollen, unterhaltsamen Roman ergänzen, der nachhallt. Den Namen Max Gross sollte man sich merken.
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