Sickster

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 2011
  • 0
  • Berlin: Rowohlt, 2011, Seiten: 330, Originalsprache
Sickster
Sickster
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Kathrin Becker
301001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2011

Absturz in Zeitlupe

Sick Hipster - im Titel steckt schon die halbe Quintessenz der Geschichte um Thorsten, Magnus und Laura, den drei jungen und verlorenen Hauptfiguren aus Thomas Melles Debütroman. Sie gehören alle auf ihre Weise der jungen und hippen Hauptstadtszene an und leiden an sich selbst, an ihrer Rolle in der Gesellschaft und an den vielen verpassten Chancen in ihrem Leben. Der Leser begleitet jeden einzelnen von ihnen auf seinem höchst individuellen Absturz in die Alkoholabhängigkeit, den Wahnsinn oder die Selbstverstümmelung.

Thorsten, Mitte dreißig und gelangweilter Angestellter eines weltweit operierenden Ölkonzerns, ertränkt seinen Frust in einer täglich wachsenden Menge von Alkohol und in ausschweifenden Partynächten voller Drogen und Sex. Eines Tages begegnet ihm Magnus, der neueste Mitarbeiter der firmeneigenen Kundenzeitschrift und zufällig ein flüchtiger Bekannter aus den gemeinsamen Schultagen auf einem Bonner Elitegymnasium. Magnus schreibt nur aus Geldnot für den verhassten Ölkonzern und will eigentlich sein lang aufgeschobenes Projekt, ein Drehbuch zu schreiben, in die Tat umsetzen. Obwohl sie sich zunächst mit Misstrauen beobachten, vereint Thorsten und Magnus doch das Bedürfnis, der Trostlosigkeit und Leere ihres eigenen Lebens zu entkommen.

Nicht nur Thorstens Karriere, auch sein Privatleben wirkt nur an der Oberfläche perfekt: er lebt mit seiner wesentlich jüngeren Freundin Laura zusammen, die er in seinen durchfeierten Nächten wahllos betrügt und aus Egoismus ebenfalls in die Drogen- und Alkoholabhängigkeit hineinziehen will, wie Laura in ihrem Tagebuch vermutet:

 

Er gibt mir so viele Tabletten und Alkohol, damit ich ihm seinen eigenen Konsum nicht vorwerfen kann. Macht mich süchtig, damit seine Sucht nicht einsam ist.

 

Lauras Tagebucheintragungen gehören zu den anrührendsten Passagen des Romans. Als Jurastudentin und Favoritin ihres Professors scheint ihr eine glänzende Zukunft bevorzustehen. Doch sie fühlt sich den hohen Erwartungen nicht gewachsen, leidet an Schreibblockaden und beginnt mit der Zeit, ihren Körper als einen Feind zu betrachten, den es zu besiegen gilt. Während Lauras wachsender Selbsthass einfühlsam beschrieben ist, wirken Thorstens Party- und Rauscheskapaden in diversen Berliner Nachtclubs wie ein Abklatsch der typischen Manager-und-Drogen-Literatur à la City Boy (und da das Buch in Berlin spielt, gibt es auch die obligatorische Sexszene im Darkroom des Berghain). Auch Magnus als der Dritte im Bunde kommt nicht ohne psychische Probleme aus dieser Geschichte heraus. Während eines heißen Sommers verirrt er sich tagsüber in voyeuristischen Internetforen und nachts in den Straßen Berlins. Ganz wie Russell Crowe in A Beautiful Mind beginnt er, überall Zeichen und Codes zu sehen, die nur für ihn bestimmt zu sein scheinen und die ihn mit ihrer Vieldeutigkeit langsam aber sicher in den Wahnsinn treiben.

Auf den letzten Seiten des Romans begegnen sich die drei körperlich und psychisch versehrten Hauptfiguren schließlich in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie wieder und verfallen dort auf die Idee, dem bereits erwähnten Ölkonzern als Inbegriff des Kapitalismus einen Streich zu spielen. Wie am Ende von Die Fetten Jahre Sind Vorbei wollen auch hier drei Revolutionäre dem verhassten System einen winzigen, aber schmerzhaften Stich zufügen. Da ihre Mitinsassen bei dieser Aktion eine tragende Rolle spielen, lässt sich aus Sickster unter anderem die durchaus nicht revolutionäre Erkenntnis ziehen, dass Wahnsinnige die einzig Vernünftigen in unserer kranken Welt sind.

Sickster ist kein Buch, das man mit Vergnügen liest. Mal bleibt der Blick des Autors schmerzhaft nah an Thorstens durch den übermäßigen Alkoholkonsum verkorksten Körperfunktionen und protokolliert jeden Drink, jedes Zittern, jedes Mal, wenn er sich wieder übergeben muss. Andere Stellen wirken hingegen so banal, dass man dahinter beinahe Absicht vermuten möchte. Nachdem wir beispielsweise Magnus' Hass auf seinen öligen Arbeitgeber fast 300 Seiten lang kennengelernt haben, steht dort plötzlich der Satz:

 

Es erfüllte Magnus insgeheim mit Scham, für den europaweit führenden Mineralölkonzern und also für das Kapital an sich zu arbeiten.

 

Die Feuilletons der großen Zeitungen haben Thomas Melles für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman fast durchgehend gelobt und unter anderem Vergleiche zu J. D. Salinger und Allen Ginsberg gezogen. Fraglos versucht Sickster, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und ihr das eigene kranke Gesicht zu zeigen. Leider zeichnet sich die Geschichte jedoch eher durch mangelnde Originalität aus und lässt den Leser mit dem Gefühl zurück, das alles schon einmal irgendwo gelesen zu haben.

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