Angriffsfront Intimleben
Antje Ravic Strubel schreibt mit ihrem neuen Roman nicht nur die Geschichte eines Inzests, ihr gelingt auch eine beeindruckende Schilderung zwischenmenschlicher Beziehungen im Schatten der Stasi.
Dieser Roman beginnt bedächtig, fast langsam.
Es beginnt immer unmerklich.
Ravic Strubels Geschichte beginnt mit dem Tagesausflug eines jungen Deutschen auf eine schwedische Vogelschutzinsel in der Ostsee.
Weiß blitzt die Ostsee in der Ferne auf. Schaumkämme beherrschen die Wellen. Sie werden breiter, zinken länger aus, greifen tief hinein ins graue Wasser. Sie kämmen die Ostsee in Richtung Strand. Lange Strähnen, die der Wind auseinandertreibt und wieder zusammenschiebt, klatschen ans Ufer."
Schon diese Landschaftsbeschreibung zeigt, dass Antje Ravic Strubel unter den jüngeren deutschen Autoren zu den besten Stilistinnen zu zählen ist. Wie die Ostsee bei leichtem Wind fängt ihr neuer Roman an. Doch schon die Eingangsszene verrät, dass die Idylle nicht bleiben wird. Die Ostsee täuscht nämlich nur vor, ein Meer zu sein.
Im Grunde ist sie nur ein See, aber sie öffnet sich dem Atlantik weit genug, um den Anschein eines Ozeans zu erwecken. Um die Glaubwürdigkeit der Täuschung zu erhöhen, bringt sie einzelne Elemente des Meeres ins Spiel: Salzwasser. Muscheln. Feuersteine und Lummen.
Täuschung, Verrat, Betrug. Alles das bricht sich auch in diesem Roman Bahn. Glaubt der Leser eingangs noch, Ravic Strubel habe eine leichten Roman geschrieben, einen Liebesroman zwischen dem Jungen, Erik, und Inez, der Ornithologin, die 16 Jahre älter ist als er, naht sich in kleinen Schritten, in immer wiederkehrenden Anspielungen die Wende. Erik ist ein offener Mensch, vielleicht sogar ein bisschen naiv, aber er ist nicht der Öko, der auf Inez’ Insel seine Bestimmung sucht.
Ich wollte Wirtschaft und Politik studieren, und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich hellblaue und cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tragen wollte, und zwar täglich.
Nein, eine Bullerbü-Romanze sucht dieser junge Mann nicht auf der Insel. Die wird er auch nicht finden.
Und doch bleibt er auf der Insel. Er bleibt, weil er sich verliebt in Inez, die spröde Frau von 41 Jahren. Schon bald wird klar, dass auf der Insel neben der Liebesgeschichte noch eine andere Geschichte spielt, verdeckt erst, aber immer offener zu Tage tretend. Inez zeigt Eric die Felsen, von denen die Lummen ihre Jungen in den Abgrund werfen, den Lummensprung. Mütter werfen ihre Kinder den Felsen hinunter, damit sie noch vor dem Fliegen das Schwimmen lernen.
Du bist aus dem Osten?", fragt Erik, selber aus den neuen Ländern, Inez. "Ich bin ein Zugvogel", antwortet Inez, "und ich hätte nicht gedacht, dass das in eurem Alter noch eine Rolle spielt.
Von der Literaturkritik ist er oft angemahnt worden, der deutsche Gegenwartsroman. Den hat auch Ravic Strubel nicht geschrieben. Aber einen deutsch-deutschen Roman, der sich, in ihrer geliebten Wahlheimat Schweden spielend, der verharmlosenden Ostalgie entgegenstellt, den legt sie neben der Liebesgeschichte von Erik und Inez schon vor. Mit Erik verlässt an diesem Tag nämlich auch Rainer Feldberg die Fähre, eine alte, lederne Arzttasche in der Hand. Feldberg ist undurchsichtig, er schnüffelt. Inez scheint ihn von früher her zu kennen. Für den "Rotblonden", wie Erik Feldberg nennt, ist die DDR noch heute ein
Teil der Welt, der nicht mehr existiert und mal die Zukunft war.
Schon die Sprache verrät ihn schnell. "Angriffsfront Intimleben", so bürokratisch hat auch die Stasi den Alltag in der DDR in Worte gefasst. Und seine Beschreibung von Berlin. Berlin,
die Stadt, die Feldberg von allen sozialistischen Städten am meisten gefiel. Ihre Weitläufigkeit, die verfaulenden Villen an der Peripherie, Zeichen des absterbenden Imperialismus, der aufstrebende stolze Palast in der Mitte.
Es kommt wie es kommen musste. Feldberg arbeitete bei der "Firma", als die damals 16 Jahre alte Inez in der DDR ihre erste große Liebe erlebte. Felix Ton hieß der "Ritter", ein ostdeutscher Gigolo, der das Mädchen damals beeindruckte. Inez saß gerade auf einer Wippe, Feldberg dabei.
"Schicker Rock", sagte Feldberg. "Bestimmt auch was Schickes drunter." Wortwechsel; der Mann, der Schirm und Schutzschild der Partei sein sollte, legt gegenüber dem minderjährigen Mädchen sein Stasi-deutsch schnell ab. "Ich wette, da ist ein kleiner heißer Punkt drunter, dem es schon angefangen hat, Spaß zu machen." Inez wehrt sich, sieht in der Nähe eine Zigarette aufleuchten. Hört eine Stimme. "Lass sie runter, Kumpel, du hast doch gehört, es macht ihr keinen Spaß mehr.
Felix Ton betritt die Bühne, Inez romantischer Ritter, der über die DDR lästert, dennoch Karriere macht, in der DDR im Außenhandel unter dem Schutz Feldbergs. Jetzt im Westen als CDU-Bundestagskandidat in Potsdam, ein typischer Wendehals, wie es sie viele gibt in Deutschland.
Ravic Strubel wechselt die Erzählperspektive. Inez, auch Thon erinnern sich. Die Geschichte nimmt spürbar an Fahrt auf. Passagenweise liest sich das jetzt wie in einem Polit-Thriller. Klischeehaft, banal, Pappfertigfiguren: Das sind Vorwürfe, die Ravic Strubel gerade in den Feuilletons früherer SED-Bezirkszeitungen gemacht wurden. Ist das so? Gut, manchmal wirkt die Geschichte ein bisschen zu sehr konstruiert. Aber dass die DDR eben nicht die niedliche Kleingartenidylle war, in der sozialer Zusammenhalt und Nächstenliebe unter dem Deckmantel des real existierenden Sozialismus blühten, das hat wohl selten ein Autor so deutlich beschrieben wie Ravic Strubel. Und die "Angriffsfront Intimleben" ist mit dem Ende der DDR noch lange nicht beendet. Zwischenmenschliche Beziehungen in der DDR sind ein großes Thema, ein Thema, das für die 1974 in Potsdam lebende Autorin schon in früheren Büchern eine Bedeutung hatte. Die Szene in Feldbergs Datsche, den Abend als Thon die 16 Jahre alte, von ihm geschwängerte Inez einfach sitzen lässt, gehört zu den beklemmendsten Schilderungen in dem Roman. Inez, Felix, auch Erik sind Suchende, auch Getriebene. Nur Feldberg, der nach seiner Stasi-Karriere im Westen als schmieriger Privatdetektiv weitermacht, scheint wie die Spinne im Netz die Fäden zusammen zu halten.
Feldberg kümmert sich um alles. Er sucht in der DDR die Adoptiveltern für das Kind, er sorgt für einen Ausbildungsplatz für Inez. Und er hat auch nach der Wende beide, Mutter und Sohn, nie mehr aus dem Auge gelassen. Und wieder kommt es, wie es kommen musste. Der Leser ahnt es bald, Erik ist Inez und Felix’ Sohn. Die Liebesgeschichte ist eine Inzestgeschichte. Es ist eindrucksvoll, wie Ravic Strubel diese Liebe beschreibt. Als beide die Wahrheit erkennen, trennen sie sich nicht. Die Liebe geht weiter, ein Wagnis für jeden Autoren. Ravic Strubel ist es geglückt, diese Liebe stehen zu lassen, ohne dass sie auch nur einmal den moralischen Zeigefinger hebt. ´
"Sie haben doch was miteinander, Sie und der Junge", fragt eine von Feldberg auf die Insel gelockte Journalistin Inez. Ihre Antwort: "Wir haben alles."
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