Die Stadt der Blinden

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 1997
  • 1
  • Lissabon: Caminho, 1995, Titel: 'Ensaio sobre a cegueira', Seiten: 310, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997, Seiten: 398, Übersetzt: Ray-Güde Mertin
  • Beltershausen: Verlag und Studio für Hörspielproduktionen, 1998, Seiten: 6, Übersetzt: Reiner Unglaub, Bemerkung: Kassetten-Version
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999, Seiten: 398, Übersetzt: Ray-Güde Mertin
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2001, Seiten: 398, Übersetzt: Ray-Güde Mertin , Bemerkung: Einmalige Sonderausgabe
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2004, Seiten: 398, Übersetzt: Ray-Güde Mertin , Bemerkung: Einmalige Sonderausgabe
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006, Seiten: 398, Übersetzt: Ray-Güde Mertin , Bemerkung: Einmalige Sonderausgabe
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008, Seiten: 427, Übersetzt: Ray-Güde Mertin , Bemerkung: Sonderausgabe zum Film
Die Stadt der Blinden
Die Stadt der Blinden
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Britta Höhne
861001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2011

Blinde, die sehend nicht sehen

Eine Ampel springt auf Grün. Irgendwo in einer unbekannten Stadt. Doch der Verkehr fließt nicht. Er steht. Lautes Gehupe, Geschimpfe, Verfluchungen. Mittendrin im Trubel bewegt sich ein Fahrzeug einfach nicht weiter, weil dessen Fahrer ganz plötzlich erblindet ist. Ein Mann hilft. Macht sich die Situation zu eigen und klaut dem plötzlich erblindetem sein Fahrzeug. Und erblindet selbst. Eine Epidemie bricht aus. Eine ganze Stadt verliert die Sehkraft.

Dem Portugiesischen Schriftsteller José Saramago, Literaturnobelpreisträger von 1998,  ist mit Stadt der Blinden fürwahr ein Coup gelungen. Was passiert, wenn eine Epidemie ausbricht, die Menschen einer ganzen Stadt plötzlich – scheinbar ohne Grund – nicht mehr sehen können? Einer nach dem anderen verliert das Augenlicht. Ein Augenarzt der helfen möchte, wird sein eigener Patient. Lediglich dessen Frau simuliert die Blindheit, um letztendlich helfen zu können. Warum eben diese Frau nicht der Krankheit zum Opfer fällt, bleibt ungeklärt und ist auch nicht von Bedeutung.

Saramago spielt in seinem fesselnden Roman mit der Ohnmacht. Der Ohnmacht der Betroffenen und der Regierung, die nicht weiß, wie sie handeln kann. Schließlich steckt sie alle Blinden in ein leer stehenden Irrenhaus, versorgt sie anfänglich noch mit Lebensmitteln, wer zu Fliehen versucht, wird erschossen. Die Machthaber ziehen sich zusehends zurück, überlassen die hilflosen Menschen sich selbst. Innerhalb der Anstalt herrscht Chaos, Barbarei. Gruppen bilden sich und Frauen verkaufen ihre Körper für Nahrung. Da wird ein Blinder, einer, der noch nie in seinem Leben sehen konnte, plötzlich zum Sehenden. Ihm ist es vertraut, sich auf seine verbliebenen Sinne zu verlassen. Eine Eigenschaft, die den plötzlich Erblindeten natürlich fehlt.

Gruppen rotten sich zusammen. Kämpfen gegeneinander, um Essen, um Medizin, um Versorgung. Wie in William Goldings erstem Roman Herr der Fliegen (1954), versucht jeder zu überleben, ist jeder sich selbst der Nächste, will jeder nur sich selbst helfen. Kristallisieren sich die Charaktere heraus, wie sie wirklich sind. Nichts wird mehr geschönt: Gewalt, Brutalität in Reinform. Bei Golding sind es die scheinbar schutzlosen, hilfsbedürftigen, unberührten Kinder, die zu Mördern werden und auch Saramago baut Kinder in seine Geschichte ein. Anders allerdings als Golding, schutzlos zwar aber doch umtrieben.

Dank der sehenden Frau, die die Blindheit nur simuliert, um mit ihrem Mann, dem Augenarzt, inhaftiert zu werden, gelingt der Ausbruch, die Freiheit in eine Welt, die längst nicht mehr die alt bekannte ist. Die Stadt liegt in Trümmern. Chaos herrscht, Geschäfte wurden geplündert, Häuser ausgeräumt. Ausnahmezustand.

Saramago stellt mit seiner Geschichte die Frage nach dem Kern der Menschheit, nach dem Gut und Böse und danach, was sich hinter der Fassade jedes Einzelnen verbirgt. Er zeigt auf, wie wenig die Anderen noch interessieren, kaum das ein Mensch selbst in Not ist. Nur kleine Formationen schaffen es, sich in dieser Misere über Wasser zu halten, sich zu vertrauen, einer wichtigen Eigenschaft in Situationen wie diesen. Der Autor malt ein schwarzes Bild menschlicher Seelen und er malt es so gut, dass der Roman ausnahmslos jeden berührt.

Die Quintessenz steht ganz am Ende. Dort, wo die meisten Erblindeten wieder sehen können. So fragt der Arzt sich selbst und seine Frau, warum die ganze Stadt erblindet sei?

 

"Das weiß ich nicht, vielleicht werden wir eines Tages den Grund dafür erfahren, Soll ich dir sagen, was ich denke, Ja, Ich glaube nicht, daß wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen."

 

Vielleicht ist das so.

José Saramago hat bis zu seinem Tode im Jahr 2010 viele gute Bücher geschrieben. Die Stadt der Blinden ist aber unumstritten eines seiner beeindruckendsten Werke.

Die Stadt der Blinden

José Saramago, Rowohlt

Die Stadt der Blinden

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