Unsere Geschichte beginnt
- Berlin-Verlag
- Erschienen: Januar 2011
- 1
- New York: Knopf, 2008, Titel: 'Our story begins', Seiten: 379, Originalsprache
- Berlin: Berlin-Verlag, 2011, Seiten: 223
Vom Wehren in wehrlosen Zeiten
Es gibt Autoren, die würde man am liebsten über sich selbst sprechen lassen, indem man lediglich aus ihren Romanen zitiert. In ein paar Sätzen zeigt sich ihre ganze Meisterschaft. Unter den vier alten und zehn neuen Storys in Tobias Wolffs Buch Unsere Geschichte beginnt sticht vor allem Dieses Zimmer heraus. Sie zeigt, wie wenig er braucht, um uns zu berühren:
Solche Busse fahren immer um diese Zeit, sie starten mit Abblendlicht, um nicht die Aufmerksamkeit der Quäker vor dem Tor zu erregen, aber es klappt nicht, sie erwarten dich da, halten schweigend ihre Schilder hoch, betrachten dich nicht vorwurfsvoll, sondern traurig und mitfühlend, als der Bus an ihnen vorbei fährt, zum Flughafen und zu dem Flugzeug, das dich hinbringt, wo du nicht hinwillst – in diesem Moment weißt du genau, was deine Wünsche Wert sind, deine Pläne, all die Stärken deines Körpers und Willens.
Wie Raymond Carver versteht Wolff es, ganze Romane in kurze Geschichte zu packen. In Dieses Zimmer erzählt er von einem jungen Mann, der nach seinem ersten Highschooljahr seine Unabhängigkeit darin findet, indem er auf Farmen arbeitet und sich unter eine Gruppe von Arbeitern mischt, die nachts zu erschöpft sind, um noch etwas zu unternehmen. Bis er eines abends auf eines ihrer Zimmer eingeladen wird, um noch ein Glas zu trinken.
Das erinnert an John Steinbecks berühmten Roman Früchte des Zorns. Auch Wolffs ein paar Seiten umfassende Story erzählt vom Überlebenskampf, der für manche Menschen nie endet, wenn sie gezwungen werden, wie die Tiere zu hausen, und ihre Würde verkaufen müssen. Wie er das Zimmer beschreibt, es schließlich zum Eklat kommt, unterscheidet ihn jedoch von Steinbeck. Alles hat seine Grenzen, sagt Wolff, jenseits denen nur noch das Aufbegehren zählt.
Der versteckt Wahnsinn taucht in vielen von Wolffs Geschichten auf. Mary in Im Garten der nordamerikanischen Märtyrer fühlt sich eigentlich sicher in ihrem College. Bis es schließen muss. Sie findet zwar eine neue Anstellung in einem Staat, in dem es zu viel regnet, ist aber dort unglücklich. Als sie von einer Freundin zu einem Vorstellungsgespräch an einem renommierten College eingeladen wird, glaubt sie an ihre Chance. Sie weiß nicht, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelt, weil lediglich die Quotenfrau abgehakt werden muss, um einen männlichen Kandidaten durchzuwinken. Auch hier wehrt sich Wolffs Heldin am Ende. Sie wird nicht den Vortrag halten, der von ihr erwartet wird. Sie wird ihr Hörgerät abschalten und trotz allem Protest einfach drauf losreden.
Die Siege der vom Leben Gezeichneten bei Tobias Wolff blitzen immer nur kurz auf. Auch wenn ihre Übersprungshandlungen oft nicht klug erscheinen, manchmal gar dem Strafgesetzbuch widersprechen, stellen sie unter Beweis stellen, dass man nicht alles mit ihnen machen kann.
Anders im Jäger im Schnee. Da ist von Anfang an Trash angesagt. Drei Männer verabreden sich Jagd fahren, hocken in einem Pick-Up, dessen Windschutzscheibe zum Teil fehlt, und fahren mitten durch den eiskalten Winter in einen Wald. Der eine gesteht, dass er sich in eine sechzehnjährige Babysitterin verliebt hat und sein Privatleben soeben implodiert. Der zweite fühlt sich zurückversetzt und nicht verstanden. Schließlich erlegen sie kein Wild sondern einen kranken Hofhund und schießen aufeinander.
Tobias Wolff erzählt das beiläufig, ungerührt. Die Jäger legen den Verwundeten auf die Pritsche des Pick-Ups und halten auf dem Weg zum Krankenhaus an einem Diner, um sich aufzuwärmen. Als läge nicht da hinten jemand im Sterben. Ein Leben ist nichts mehr wert, wenn man das eigene nicht mehr spürt.
Amerikanische Storyteller sind geschult darin, Leser in den Alltag einzuwickeln, um ihre Helden mit wenigen Sätzen zu sezieren. Tobias Wolffs Storys sind wie Bekanntschaften, denen man am Abend, bei einem Essen, in einem Club, womöglich im Zug oder auf der Straße begegnet. Sie vertrauen sich einem an und verschwinden an der nächsten Haltestelle oder in die Nacht hinein.
Noch eine Kostprobe?
Dann weißt du, wo du bist, so wie du es wissen wirst, wenn die Menschen, die du liebst, vor ihrer Zeit sterben – vor der Zeit, die du für sie geplant hattest, für dich mit ihnen -, wenn deine tägliche Ration Worte und Träume dir vorenthalten wird und wenn deine Tochter den Wagen stracks vor einen Baum setzt. Und falls sie ohne einen Kratzer davonkommt, spürst du trotzdem, wie sich die dunkle Decke über dir schließt, und du weißt, wo du bist.
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